Die Welt von Gestern - Stefan Zweig

Phantastische Nacht

„Heute morgens überkam mich plötzlich der Gedanke, ich sollte das Erlebnis jener phantastischen Nacht für mich niederschreiben, um die ganze Begebenheit in ihrer natürlichen Reihenfolge einmal geordnet zu überblicken. Und seit dieser jähen Sekunde fühle ich einen unerklärlichen Zwang, mir im geschriebenen Wort jenes Abenteuer darzustellen, obzwar ich bezweifle, auch nur annähernd die Sonderbarkeit der Vorgänge schildern zu können.“

Die kurze Erzählung „Phantastische Nacht“ von Stefan Zweig erschien erstmals in der Sammlung „Amok – Novellen einer Leidenschaft“, Insel Verlag, Leipzig 1929.
Hier in einer ungekürzten Neuausgabe, LIWI Verlag, Göttingen 2019.

Phantastische Nacht – Zusammenfassung

„Phantastische Nacht“ ist eine Novelle von Stefan Zweig, die erstmals 1922 veröffentlicht wurde. Die Erzählung bietet eine tiefgründige Betrachtung der inneren Wandlung eines Mannes und seine Wiederentdeckung von Emotionen und Menschlichkeit.

Der Erzähler und Rahmenhandlung

Die Geschichte wird von einem fiktiven Erzähler berichtet, der die nachgelassenen Schriften des österreichischen Reserveoberleutnants Baron Friedrich Michael von R. präsentiert. Der Baron fällt im Herbst 1914 im Alter von 37 Jahren während der Schlacht bei Rawaruska. Der Text, den er im Oktober 1913 verfasst hat, wird nach seinem Tod von seiner Familie an den Erzähler übergeben.

Der Protagonist: Baron Friedrich Michael von R.

Baron Friedrich Michael von R., ein wohlhabender Adeliger aus Wien, beschreibt sich selbst als kultivierten und eleganten Mann, der finanziell unabhängig ist. Seine Eltern sind früh verstorben, wodurch er durch ihr Erbe ein sorgenfreies Leben führen kann. Obwohl er mit den besten Gesellschaftsschichten Wiens verkehrt, lebt er ein gefühlloses und distanziertes Leben. Von Emotionen hält er sich fern und empfindet einen „erotischen Genuss“ daran, bei anderen Emotionen zu erregen, ohne selbst welche zu spüren. Er erlebt Verluste, wie die Trennung von einer Frau und den Tod eines Freundes, mit emotionaler Kälte und einer Art „Gefühlsstarre“.

Der Beginn der Veränderung

Am Nachmittag des 7. Juni entscheidet sich der Baron spontan, auf der Ringstraße in einen Fiaker zu steigen und zum Derby zu fahren. Er wettet auf zwei Pferde, die beide gewinnen, und fühlt sich daraufhin wie ein Dieb, da er das Gefühl hat, die Verlierer betrogen zu haben. Mit den gewonnenen Kronenscheinen in seiner Brieftasche fährt er zurück nach Wien in den Sachergarten und anschließend in den Wurstelprater.

Die Begegnung mit der Nacht und den Menschen

„Wursteltheater“ wie dieses (um 1890) gaben dem Wurstelprater seinen Namen.

Im Wurstelprater, einer beliebten Vergnügungsstätte, erlebt der Baron erstmals ein Unbehagen und Schamgefühl, als er versucht, ein Dienstmädchen anzusprechen, was ihm misslingt. Seine feine Kleidung und der Pariser Zylinder wirken fehl am Platz und befremden die einfachen Leute, zu denen er sich gesetzt hat. In dieser Nacht gelingt es ihm nicht, erfolgreich Kontakt zu einer Frau aufzunehmen, und er folgt schließlich einer kleinen, verkrüppelten Prostituierten. Diese Begegnung markiert den Beginn seiner inneren Wandlung. Die Frau lächelt ihn an und bittet um ein Geschenk. Der Baron küsst sie und wird daraufhin von zwei Burschen bedrängt, die Geld verlangen. Er gibt ihnen einige der gewonnenen Kronenscheine und wird in Ruhe gelassen.

Der Wendepunkt

Auf dem Heimweg setzt sich der Baron mit seinen Gefühlen und Taten auseinander. Er beginnt, seinen Gewinn an zufällige Menschen auf der Straße zu verschenken: eine Hausiererin, einen Ballonverkäufer, einen Straßenkehrer und einen Laternenanzünder. Schließlich wirft er den Rest des Geldes in eine Backstube und auf die Stufen einer Kirche. Diese spontanen Akte der Großzügigkeit und Menschlichkeit lösen in ihm eine tiefe innere Befriedigung und ein Gefühl des Lebendigseins aus.

Die Erweckung des Barons

Durch diese Erlebnisse erfährt der Baron eine Art „Erweckung“. Er erkennt, dass er bisher nur ein oberflächliches Leben geführt hat, ohne echte Emotionen oder menschliche Bindungen. Die nächtlichen Begegnungen und seine spontanen Akte der Großzügigkeit erwecken in ihm ein neues Bewusstsein für das Leben und die Menschen um ihn herum. Er verspürt erstmals ein echtes Gefühl der Erfüllung und Menschlichkeit, das ihn tief berührt und verändert.

Über den Autor Stefan Zweig

Stefan Zweig, geboren am 28. November 1881 in Wien, Österreich, und gestorben am 22. Februar 1942 in Petrópolis, Brasilien, war ein österreichischer Schriftsteller, Dramatiker und Journalist. Er zählt zu den bedeutendsten Autoren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und hinterließ ein umfangreiches Werk, das zahlreiche Genres umspannt, darunter Romane, Novellen, Biografien, Essays und Dramen.

Frühes Leben und Bildung

Stefan Zweig wurde als Sohn wohlhabender jüdischer Eltern geboren. Sein Vater, Moritz Zweig, war ein Textilfabrikant, und seine Mutter, Ida Brettauer, entstammte einer Bankiersfamilie. Zweig wuchs in einem kultivierten und kunstsinnigen Umfeld auf, was seine spätere literarische Laufbahn maßgeblich prägte. Er besuchte das Gymnasium in Wien und studierte anschließend Philosophie und Literatur an den Universitäten in Wien und Berlin, wo er 1904 promovierte.

Literarische Karriere und Werke

Stefan Zweig

Stefan Zweig

Stefan Zweigs literarische Karriere begann früh. Bereits während seines Studiums veröffentlichte er Gedichte und Essays. Sein erstes Buch, Silberne Saiten, erschien 1901 und war eine Sammlung von Gedichten. Doch es waren seine Novellen und Romane, die ihm internationalen Ruhm einbrachten.

Zu seinen bekanntesten Werken gehören:

Einflüsse und Stil

Stefan Zweig war stark von der Wiener Moderne beeinflusst, einer Bewegung, die um die Jahrhundertwende in Wien aufblühte und Künstler wie Gustav Klimt, Egon Schiele und Schriftsteller wie Arthur Schnitzler hervorbrachte. Schnitzler, ein Meister der psychologischen Erzählkunst, beeinflusste Zweigs Werk deutlich, insbesondere durch seine präzise Darstellung innerer Konflikte und komplexer Charaktere.

Ein weiterer bedeutender Einfluss auf Zweig war Sigmund Freud. Die aufkommende Psychoanalyse in Wien prägte Zweigs Interesse an den Tiefen der menschlichen Psyche und den oft verborgenen Motiven des menschlichen Handelns. Diese Einflüsse sind in seinen Novellen und Biografien deutlich spürbar, wo er tief in die psychologischen Aspekte seiner Figuren eintaucht.

Zweig bewunderte auch französische und russische Autoren. Er schätzte die Werke von Honoré de Balzac und Émile Zola für ihre detaillierten gesellschaftlichen Darstellungen und die von Leo Tolstoi und Fjodor Dostojewski für ihre epische Breite und psychologische Tiefe. Diese Einflüsse trugen dazu bei, Zweigs eigenen Stil zu formen, der durch eine hohe emotionale Intensität und eine sorgfältige Charakterzeichnung gekennzeichnet ist.

Exil und Tod

Mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland und dem anschließenden Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich 1938 sah sich Stefan Zweig gezwungen, Europa zu verlassen. Als prominenter Jude und bekannter Kritiker des Regimes war sein Leben in Gefahr. Er emigrierte zunächst nach Großbritannien, dann in die USA und schließlich nach Brasilien. Diese Jahre des Exils waren für ihn eine Zeit tiefer persönlicher und kreativer Krise.

In Brasilien, wo er hoffte, eine neue Heimat zu finden, verfasste Zweig einige seiner letzten Werke, darunter seine Autobiografie Die Welt von Gestern. Am 22. Februar 1942 nahm er sich in Petrópolis zusammen mit seiner zweiten Frau Lotte das Leben, aus Verzweiflung über den Zustand der Welt und die Zerstörung der europäischen Kultur, die er so sehr liebte.

Phantastische Nacht – Buch

Stefan Zweig - Phantastische NachtDie kurze Erzählung „Phantastische Nacht“ von Stefan Zweig erschien erstmals in der Sammlung „Amok – Novellen einer Leidenschaft“, Insel Verlag, Leipzig 1929. Hier in einer ungekürzten Neuausgabe, LIWI Verlag, Göttingen 2019.
LIWI Literatur- und Wissenschaftsverlag

ISBN: 3965421565
EAN: 9783965421561
Paperback. 48 Seiten

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Verfasst von Thomas Löding, LIWI Blog, zuletzt aktualisiert am 02. Juni 2024