Die Welt von Gestern - Stefan Zweig

Verwirrung der Gefühle

„… nur der eine fehlt, von dem aller schöpferischer Impuls ausging, der Name des Mannes, der mein Schicksal bestimmte und nun wieder mit doppelter Gewalt mich in meine Jugend ruft. Von allen ist gesprochen, nur von ihm nicht, der mir die Sprache gab und in dessen Atem ich rede: und mit einemmal fühle ich dieses feige Verschweigen als eine Schuld.“

Stefan Zweig.
Verwirrung der Gefühle.
Erstdruck: Insel-Verlag, Leipzig 1927.

„Verwirrung der Gefühle“ ist eine Novelle von Stefan Zweig, die erstmals 1927 veröffentlicht wurde. Die Erzählung beschäftigt sich mit den Themen Liebe, Leidenschaft, Erkenntnis und Selbstfindung und ist ein Beispiel für Zweigs Fähigkeit, komplexe psychologische Zustände darzustellen.

Handlung

Die Novelle wird aus der Perspektive von Roland, einem sechzigjährigen Literaturprofessor, erzählt, der sich an seine Studienzeit erinnert. Roland stammt aus einer wohlhabenden Familie und zeigt wenig Interesse an seiner akademischen Laufbahn. Sein Vater, der von Rolands mangelndem Ehrgeiz enttäuscht ist, schickt ihn an eine Universitätsstadt, um dort seine Studien fortzusetzen.

Dort trifft Roland auf einen älteren, berühmten Professor der Anglistik, dessen Vorlesungen ihn tief beeindrucken. Der Professor, der namenlos bleibt, ist ein charismatischer, leidenschaftlicher Lehrer, der seine Studenten mit seinem Enthusiasmus für die englische Literatur ansteckt. Roland ist fasziniert von ihm und entwickelt eine enge Beziehung zu dem Professor.

Der Professor lebt zurückgezogen mit seiner Frau in einem abgelegenen Haus. Roland zieht bei ihnen ein und erlebt eine Zeit intensiven Lernens und geistiger Erweckung. Doch bald merkt er, dass hinter der äußerlichen Ruhe des Professors eine tiefe seelische Zerrissenheit steckt. Der Professor leidet unter inneren Konflikten und einer unbestimmten Melancholie.

Roland wird Zeuge von plötzlichen Stimmungsschwankungen und mysteriösen Verhaltensweisen des Professors. Gleichzeitig wächst in ihm eine verwirrende Mischung aus Bewunderung und Liebe für den Professor, was ihm selbst unheimlich ist. Diese Gefühle führen zu einer Krise, in der Roland seine eigenen Emotionen und seine sexuelle Identität in Frage stellt.

Ein Wendepunkt in der Geschichte ist eine nächtliche Begegnung, bei der der Professor in einem Zustand völliger Verzweiflung zu Roland kommt und ihm seine innersten Gefühle offenbart. Er gesteht Roland seine Liebe und seine sexuellen Zweifel, was Roland tief erschüttert. Die Beziehung erreicht einen Höhepunkt der emotionalen Verwirrung, der Roland zwingt, sich mit seiner eigenen Identität auseinanderzusetzen.

Am Ende der Novelle sieht man Roland als gereiften Mann, der auf diese prägende Zeit seines Lebens zurückblickt. Die Begegnung mit dem Professor hat ihn geformt und zu dem Menschen gemacht, der er heute ist. Roland erkennt, dass diese Phase der Verwirrung und des emotionalen Chaos notwendig war, um zu einer tieferen Selbsterkenntnis zu gelangen.

Themen und Motive

„Verwirrung der Gefühle“ behandelt die Themen sexuelle Identität, intellektuelle und emotionale Abhängigkeit, sowie die Suche nach Selbstverwirklichung. Die Novelle zeigt, wie komplex und ambivalent menschliche Gefühle sein können, und wie schwer es ist, klare Trennlinien zwischen Bewunderung, Liebe und erotischer Anziehung zu ziehen.

Ein zentrales Motiv ist die Lehrer-Schüler-Beziehung, die hier als eine Quelle sowohl der Erleuchtung als auch der Verwirrung dargestellt wird. Der Professor repräsentiert eine intellektuelle und emotionale Autorität, deren Einflüsse Roland tief prägen. Die Beziehung zwischen Roland und dem Professor ist von ambivalenten Gefühlen geprägt, die sowohl intellektuelle Bewunderung als auch sexuelle Verwirrung umfassen.

Die Novelle spiegelt auch Zweigs Interesse an der Psychoanalyse wider, insbesondere an den Theorien Sigmund Freuds. Die Untersuchung von unterdrückten Gefühlen und die Konflikte des Unbewussten sind zentrale Elemente der Geschichte.

Stil und Struktur

Zweigs Schreibstil in „Verwirrung der Gefühle“ ist geprägt von einer intensiven psychologischen Tiefe und einer detaillierten Charakterstudie. Die Erzählweise ist introspektiv, und die Handlung wird durch Rolands Erinnerungen und Reflexionen vorangetrieben. Die Sprache ist reich an Metaphern und symbolischen Bildern, die die inneren Zustände der Figuren widerspiegeln.

Die Struktur der Novelle ist nicht linear; sie wechselt zwischen der Gegenwart und den Erinnerungen des Protagonisten, was die subjektive Natur der Erzählung unterstreicht. Diese Struktur ermöglicht es Zweig, die Komplexität der Gefühlswelt seiner Figuren zu erforschen und die Ambivalenz menschlicher Beziehungen darzustellen.

Fazit

„Verwirrung der Gefühle“ ist eine vielschichtige und tiefgründige Novelle, die sich mit den komplexen und oft widersprüchlichen Aspekten der menschlichen Gefühle auseinandersetzt. Stefan Zweig gelingt es, die innere Zerrissenheit und die Suche nach Identität seiner Figuren eindrucksvoll darzustellen, und bietet dem Leser einen tiefen Einblick in die psychologischen Abgründe der menschlichen Seele.

Über den Autor Stefan Zweig

Stefan Zweig

Stefan Zweig

Stefan Zweig war einer der bedeutendsten österreichischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, bekannt für seine Novellen, Romane, Biographien und Essays. Geboren am 28. November 1881 in Wien in eine wohlhabende jüdische Familie, prägte seine Herkunft und Erziehung seine literarische Entwicklung maßgeblich. Zweig war nicht nur ein produktiver Autor, sondern auch ein begeisterter Europäer und Pazifist, dessen Werke von humanistischen Idealen und einer tiefen Beschäftigung mit der menschlichen Psyche geprägt sind.

Frühes Leben und Ausbildung

Zweig wuchs in einem intellektuellen und kulturell reichen Umfeld auf. Sein Vater war ein erfolgreicher Textilfabrikant, und seine Mutter entstammte einer angesehenen Bankiersfamilie. Diese privilegierte Herkunft ermöglichte es ihm, eine hervorragende Bildung zu genießen. Er studierte Germanistik und Romanistik an den Universitäten von Wien und Berlin und promovierte 1904 mit einer Dissertation über Hippolyte Taine.

Schon während seiner Studienzeit begann Zweig zu schreiben und veröffentlichte seine ersten Gedichte. Seine literarische Karriere nahm schnell Fahrt auf, und er knüpfte Kontakte zu vielen bedeutenden Persönlichkeiten der Wiener Literaturszene, darunter Hugo von Hofmannsthal und Rainer Maria Rilke.

Literarische Karriere

Zweig begann seine Karriere als Lyriker, aber bald wandte er sich der Prosa zu, in der er seinen größten Erfolg fand. Seine frühen Werke waren geprägt von einer intensiven Auseinandersetzung mit der Psychologie seiner Charaktere und einer tiefen humanistischen Haltung.

Wichtige Werke

Zu seinen bedeutendsten Werken zählen eine Reihe von Novellen, Romanen und Biographien:

  • Brennendes Geheimnis (1911): Diese Novelle handelt von einem Jungen, der die komplizierte Beziehung zwischen seiner Mutter und einem fremden Mann beobachtet und dabei in eine Welt der Erwachsenen eingeführt wird.
  • Amok (1922): Eine Novelle, die die Geschichte eines deutschen Arztes in der Kolonialzeit erzählt, der von einer unerwiderten Liebe besessen ist und schließlich in den Wahnsinn getrieben wird.
  • Die Schachnovelle (1942): Zweigs vielleicht bekanntestes Werk, geschrieben während seines Exils in Brasilien. Die Novelle schildert die psychologischen Kämpfe eines österreichischen Emigranten, der während einer Schachpartie auf einem Schiff gegen den Weltmeister antritt.
  • Sternstunden der Menschheit (1927): Eine Sammlung von historischen Miniaturen, in denen Zweig bedeutende Momente und Wendepunkte der Weltgeschichte schildert. Diese Geschichten sind geprägt von Zweigs tiefem Verständnis für die menschliche Natur und seine Fähigkeit, historische Ereignisse lebendig und zugänglich zu machen.
  • Marie Antoinette (1932) und Joseph Fouché (1929): Zweigs Biographien sind bekannt für ihre einfühlsame Darstellung der Persönlichkeiten und die sorgfältige historische Recherche. In diesen Werken zeichnet er ein differenziertes Bild von historischen Figuren, das über die bloßen Fakten hinausgeht und ihre inneren Konflikte und Motivationen ergründet.
  • Ungeduld des Herzens (1939): Zweigs einziger vollendeter Roman erzählt die Geschichte eines jungen Offiziers, der sich in eine gelähmte Frau verliebt. Der Roman thematisiert Mitgefühl und Schuld und zeigt die psychologischen Komplexitäten menschlicher Beziehungen.

Exil und Spätere Jahre

Mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus und der zunehmenden Bedrohung für jüdische Intellektuelle in Europa verließ Zweig 1934 Österreich. Er lebte zunächst in England, später in den USA und schließlich in Brasilien. Die Jahre im Exil waren für ihn äußerst schmerzhaft, da er sich von seiner Heimat und den kulturellen Wurzeln abgeschnitten fühlte.

In Brasilien verfasste er seine Autobiographie Die Welt von Gestern (1942), in der er die verlorene Welt des alten Europas beschrieb und seine persönlichen Erfahrungen und Begegnungen reflektierte. Dieses Werk gilt als eines der bedeutendsten literarischen Zeugnisse der Zwischenkriegszeit und bietet einen tiefen Einblick in die intellektuelle und kulturelle Landschaft der Zeit.

Stefan Zweig und seine zweite Frau Lotte nahmen sich am 22. Februar 1942 in Petrópolis, Brasilien, das Leben. Der Verlust des Heimatlandes, die Zerstörung Europas durch den Krieg und die Aussicht auf eine ungewisse Zukunft führten zu dieser tragischen Entscheidung.

Vermächtnis

Stefan Zweigs Werk bleibt bis heute von großer Bedeutung. Seine meisterhafte Erzählkunst, sein tiefes Verständnis für die menschliche Psyche und seine Fähigkeit, historische und persönliche Dramen lebendig darzustellen, machen ihn zu einem der herausragendsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Seine Werke wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und haben Generationen von Lesern inspiriert und bewegt.

Zweig war ein überzeugter Humanist, der sein Leben und Werk dem Frieden, der Verständigung und der kulturellen Vielfalt widmete. In einer Zeit der politischen und sozialen Umwälzungen bot er eine Stimme der Vernunft und Menschlichkeit, deren Echo bis heute nachhallt.

Buch

Stefan Zweig - Verwirrung der GefühleStefan Zweig.
Verwirrung der Gefühle.
Erstdruck: Insel-Verlag, Leipzig 1927.

Neuausgabe, Göttingen 2019.
LIWI Literatur- und Wissenschaftsverlag

ISBN: 396542114X
EAN: 9783965421141
Paperback.  60 Seiten

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