Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer Frau
„Die meisten Menschen sind von stumpfer Phantasie. Was sie nicht unmittelbar anrührt, nicht aufdringlich spitzen Keil bis hart an ihre Sinne treibt, vermag sie kaum zu entfachen; geschieht aber einmal knapp vor ihren Augen, in unmittelbarer Tastnähe des Gefühls auch nur ein Geringes, sogleich regt es in ihnen übermäßige Leidenschaft. (…)“
Stefan Zweig.
Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer Frau.
Erstdruck in: Verwirrung der Gefühle. Drei Novellen, Insel-Verlag, Leipzig 1927.
Vollständige Neuausgabe, Göttingen 2019
LIWI Literatur- und Wissenschaftsverlag
EAN: 9783965421271
Zusammenfassung / Inhaltsangabe
„Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer Frau“ ist eine fesselnde Novelle von Stefan Zweig, die tief in die psychologischen Tiefen menschlicher Leidenschaft und Obsession eintaucht. Die Geschichte wird aus der Perspektive eines Ich-Erzählers wiedergegeben, der in einem Gästehaus an der Riviera Zeuge eines unerwarteten Geständnisses wird. Eine ältere, respektierte Dame der Gesellschaft offenbart ihm die Geschichte einer stürmischen und transformativen Begegnung, die sie vor vielen Jahren erlebt hat.
Diese Begegnung ereignete sich in Monte Carlo, wo sie einem jungen Mann begegnete, der vom Glücksspiel besessen war. Innerhalb von nur vierundzwanzig Stunden entwickelt sich zwischen der Frau und dem Spieler eine intensive, wenn auch kurzlebige, Verbindung. Trotz der Kürze ihrer Beziehung wird die Dame tief von der Leidenschaftlichkeit und Verzweiflung des Mannes berührt, was sie dazu bringt, ihre eigenen Lebensentscheidungen und die Konventionen, denen sie bisher gefolgt war, in Frage zu stellen.
Die Novelle erforscht die flüchtige Natur menschlicher Verbindungen und die unergründliche Tiefe emotionaler Erfahrungen, selbst innerhalb eines so kurzen Zeitrahmens.
Analyse und Interpretation
In „Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer Frau“ nutzt Stefan Zweig seine meisterhafte psychologische Einsicht, um die Komplexität und Widersprüchlichkeit menschlicher Emotionen zu erkunden. Die Geschichte hinterfragt konventionelle Moralvorstellungen und die gesellschaftlichen Erwartungen an das Verhalten von Frauen, indem sie eine Protagonistin in den Mittelpunkt stellt, die sich leidenschaftlich und impulsiv über die Grenzen des ihr durch Geschlecht und Alter zugewiesenen Raums hinauswagt.
Zweig thematisiert das Motiv der Obsession, sowohl in Form des Glücksspiels als auch in der unerwarteten emotionalen Verstrickung der Hauptfigur. Die Novelle beleuchtet die Idee, dass wahre Leidenschaft und Verständnis für einen anderen Menschen jenseits von sozialen Normen und zeitlichen Beschränkungen liegen können. Die Begegnung der Frau mit dem Spieler dient als Katalysator für eine tiefgreifende Selbstreflexion und persönliche Veränderung, die die Essenz menschlicher Freiheit und Selbstbestimmung berührt.
Zweigs Werk ist auch eine Meditation über das Wesen der Zeit und wie entscheidende Momente, selbst wenn sie nur kurz währen, ein Leben für immer verändern können. Die Geschichte betont die Unvorhersehbarkeit des Lebens und die Möglichkeit der Erlösung und des Verständnisses in den unerwartetsten Begegnungen.
Sprache und Stil
Stefan Zweigs Schreibstil in „Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer Frau“ ist geprägt von einer intensiven Emotionalität und einer tiefen Empathie für seine Charaktere. Seine Sprache ist reich und nuanciert, fähig, die subtilsten Regungen der Seele einzufangen und dem Leser unmittelbar zu vermitteln. Zweig meistert es, Spannung und psychologische Tiefe aufzubauen, indem er die inneren Kämpfe und Konflikte seiner Figuren detailliert darstellt.
Die Erzählung zeichnet sich durch ihre Fokussierung auf die inneren Erlebnisse der Protagonistin aus, die Zweig mit großer Sorgfalt und Sensibilität beschreibt. Die Verwendung des Rückblicks als erzählerisches Mittel ermöglicht es dem Autor, die Vergangenheit und die gegenwärtigen Reflexionen der Frau miteinander zu verweben und so eine reiche Schichtung der Erzählung zu schaffen.
Zweigs Fähigkeit, tiefgründige philosophische und psychologische Themen durch eine fesselnde Geschichte zu vermitteln, macht „Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer Frau“ zu einem zeitlosen Werk, das Leser immer wieder zum Nachdenken über die Natur der menschlichen Existenz und die Mysterien des Herzens anregt.
Wichtige Figuren
Die anonyme Dame, die Hauptfigur der Novelle, repräsentiert eine tiefgründige und komplexe Persönlichkeit, die sich inmitten einer Lebenskrise befindet. Ihre Entscheidung, sich auf den jungen Spieler einzulassen und ihn vor dem Ruin zu retten, steht symbolisch für den Kampf zwischen gesellschaftlichen Erwartungen und persönlichem Verlangen nach Authentizität und Leidenschaft. Ihre innere Reise von der sozialen Konformität zur Selbstentdeckung bildet das emotionale Rückgrat der Erzählung.
Der Spieler, obwohl in der Geschichte weniger detailliert ausgearbeitet, dient als Katalysator für die emotionale und psychologische Entwicklung der Hauptfigur. Seine Obsession und sein drohender Fall in die Abgründe des Glücksspiels werfen ein grelles Licht auf die menschliche Anfälligkeit für Leidenschaften und die Zerbrechlichkeit des Schicksals.
Der Ich-Erzähler, durch dessen Augen die Geschichte der Dame enthüllt wird, fungiert als Brücke zwischen der Welt der Protagonistin und dem Leser. Seine Rolle als Zuhörer und Chronist betont die Bedeutung des Zuhörens und der Empathie als Mittel zum Verständnis komplexer menschlicher Erfahrungen.
Rezeption und Kritik
Seit seiner Veröffentlichung hat „Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer Frau“ Lob für Stefan Zweigs meisterhafte Darstellung der psychologischen Tiefe und der emotionalen Intensität menschlicher Erfahrungen erhalten. Kritiker heben besonders die Fähigkeit des Autors hervor, in die Tiefen der menschlichen Seele einzutauchen und die innere Welt seiner Charaktere mit großer Sensibilität und Einsicht zu erforschen.
Einige Stimmen haben jedoch Zweigs Fokus auf die inneren Kämpfe und moralischen Dilemmata seiner Figuren als zu introspektiv und weniger aktionsorientiert kritisiert. Trotz dieser Einwände bleibt die Novelle ein bewundertes Werk für seine tiefgründige Erkundung der menschlichen Natur und die unvergängliche Schönheit seiner Prosa.
Häufige Fragen und Antworten
Was vermittelt „Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer Frau“ über die Natur menschlicher Beziehungen?
Die Novelle unterstreicht die flüchtige und oft unvorhersehbare Natur menschlicher Verbindungen. Sie zeigt, wie tiefgreifende Begegnungen, selbst innerhalb kürzester Zeit, das Potenzial haben, das Leben und Selbstverständnis einer Person zu transformieren.
Warum wählte Stefan Zweig das Glücksspiel als zentrales Motiv?
Das Glücksspiel dient als Metapher für die Risiken und die Unvorhersehbarkeit des Lebens sowie für die menschliche Neigung, sich Leidenschaften hinzugeben, die sowohl zerstörerisch als auch kathartisch wirken können. Es symbolisiert die innere Zerrissenheit des Spielers und bietet einen dramatischen Hintergrund für die Entwicklung der Handlung und die Entfaltung der Charaktere.
Inwiefern ist die Novelle heute noch relevant?
„Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer Frau“ bleibt aufgrund seiner universellen Themen wie Selbstfindung, moralische Integrität und die Auseinandersetzung mit den Konsequenzen unserer Entscheidungen relevant. Zweigs Einsichten in die menschliche Psyche und die Komplexität emotionaler Bindungen sprechen grundlegende Fragen der menschlichen Existenz an, die zeitlos und in jeder Generation von Bedeutung sind.
Buchausgabe
Stefan Zweig.
Vierundzwanzig Stunden aus dem Leben einer Frau.
Erstdruck in: Verwirrung der Gefühle. Drei Novellen, Insel-Verlag, Leipzig 1927.
Vollständige Neuausgabe, Göttingen 2019
LIWI Literatur- und Wissenschaftsverlag
EAN: 9783965421271
Verfasst von Thomas Löding, LIWI Blog, zuletzt aktualisiert am 22. März 2024
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