Die Gouvernante
„Sie gehen aneinander vorbei, weichen sich aus, aber doch begegnen sich unwillkürlich ihre Blicke, wenn sie beide von der Seite die Gouvernante betrachten. (…) Eine Unruhe ist in beiden. Sie spielen heute nicht, sondern tun in ihrer Nervosität, hinter das Geheimnis zu kommen, unnütze und gleichgültige Dinge. Abends fragt nur die eine, kühl, als ob es ihr gleichgültig sei: Hast du wieder etwas bemerkt?“
Die kurze Erzählung „Die Gouvernante“ von Stefan Zweig erschien erstmals in der Sammlung „Erstes Erlebins“, Insel Verlag, Leipzig 1911.
Hier in einer ungekürzten Neuausgabe, LIWI Verlag, Göttingen 2019.
Die Gouvernante – Zusammenfassung
In der Novelle „Die Gouvernante“ von Stefan Zweig, die 1911 veröffentlicht wurde, wird eine subtile und zugleich dramatische Geschichte entfaltet, die sich mit den Themen Unschuld, Autorität und gesellschaftlicher Druck befasst. Die Handlung konzentriert sich auf zwei junge Mädchen in einem großbürgerlichen Haushalt und ihre Gouvernante, deren Schicksal tragische Wendungen nimmt.
Kontext und Hintergrund
Die Geschichte spielt in einem wohlhabenden Haus, wo zwei Schwestern, zwölf und dreizehn Jahre alt, in einer geschützten und behüteten Umgebung aufwachsen. Diese scheinbare Idylle wird jedoch jäh unterbrochen durch das verstörende Verhalten ihrer Gouvernante, einer Frau, die bis dahin eine zentrale, liebevolle Figur in ihrem Leben war.
Hauptfiguren und ihre Entwicklung
- Die Schwestern: Zwei nahezu gleichaltrige Mädchen, die durch das zentrale Ereignis der Geschichte abrupt aus ihrer Kindheit gerissen werden. Ihre Wahrnehmung der Erwachsenenwelt verändert sich dramatisch und unwiderruflich.
- Die Gouvernante: Eine bisher geschätzte und respektierte Betreuerin der Mädchen. Ihre unerwartete Schwangerschaft und der daraus resultierende gesellschaftliche Skandal führen zu ihrem tragischen Ende.
- Otto: Ein junger Mann und Cousin der Mädchen, dessen Verstrickungen mit der Gouvernante zentrale Konflikte der Geschichte auslösen.
- Die Hausfrau: Sie repräsentiert die starrsinnigen moralischen Werte der Gesellschaft. Ihre Entscheidung, die Gouvernante zu entlassen, ist von Kaltherzigkeit und sozialer Rücksichtnahme geprägt.
Handlungsverlauf
Die Geschichte entwickelt sich langsam, beginnend mit den unbeschwerten Tagen der Kindheit der Mädchen, die plötzlich durch die beunruhigenden Anzeichen ihrer Gouvernante unterbrochen werden. Die Mädchen werden unfreiwillig zu Zeuginnen eines Gesprächs, in dem die Gouvernante Otto ihre Schwangerschaft offenbart. Die Komplexität dieser Enthüllung übersteigt ihr kindliches Verständnis, besonders in einer Zeit, in der sexuelle Aufklärung nicht üblich war.
Die Reaktionen auf das Geständnis sind bezeichnend für die Zeit: Otto flieht, unfähig, die Verantwortung für seine Taten zu übernehmen, und die Gouvernante wird von der Hausfrau, die den Skandal fürchtet, entlassen. Die Gouvernante nimmt sich kurz vor dem Kündigungstermin das Leben, ein Akt, der das Ende ihrer Verzweiflung markiert und die Mädchen zutiefst verstört.
Schlussfolgerungen
Der abrupte Verlust der kindlichen Unschuld und das plötzliche Erwachen in eine Welt voller harter Realitäten sind zentrale Themen der Novelle. Stefan Zweig stellt nicht nur die individuelle Tragödie der Gouvernante dar, sondern kritisiert auch die starren sozialen Strukturen, die zu ihrem Untergang beitragen. Die abschließenden Worte des Erzählers „Seit gestern sind sie keine Kinder mehr“ heben die tiefgreifende Veränderung im Leben der Mädchen hervor, die durch die Ereignisse gezwungen sind, die Komplexität und oft auch die Grausamkeit der Erwachsenenwelt zu erkennen.
Insgesamt ist „Die Gouvernante“ eine eindrucksvolle Darstellung der Konfrontation mit gesellschaftlichen Tabus und dem schmerzhaften Übergang von der Unschuld in die Realität, erzählt mit der für Stefan Zweig typischen psychologischen Tiefe und Empathie.
Die Gouvernante – Häufige Fragen
Was ist das Hauptthema in „Die Gouvernante“?
Die Novelle „Die Gouvernante“ von Stefan Zweig behandelt vorrangig den abrupten Verlust der Unschuld und das plötzliche Erwachsenwerden zweier junger Mädchen durch die unerwartete Konfrontation mit gesellschaftlichen Tabus und persönlichen Tragödien. Weitere Themen umfassen die gesellschaftliche Moral und die daraus resultierenden Konsequenzen für individuelles Handeln.
Wie entwickelt sich die Handlung in „Die Gouvernante“?
Die Handlung der Novelle entwickelt sich um ein zentrales Ereignis: die unfreiwillige Entdeckung der Schwangerschaft der Gouvernante durch zwei junge Mädchen. Dies führt zu einer tiefen Verstörung und dem Verlust ihrer kindlichen Naivität, als sie mit den komplexen und dunklen Seiten des menschlichen Verhaltens konfrontiert werden.
Welche Rolle spielt der Charakter Otto in der Geschichte?
Otto ist der Cousin der Mädchen und eine zentrale Figur in der Geschichte. Er ist der Vater des ungeborenen Kindes der Gouvernante. Sein Verhalten – die Verweigerung der Verantwortungsübernahme und die darauf folgende Flucht – löst eine Kette von Ereignissen aus, die in der Entlassung und dem tragischen Selbstmord der Gouvernante gipfeln.
Wie reagiert die Gesellschaft auf die Schwangerschaft der Gouvernante?
Die Reaktion der Gesellschaft, vertreten durch die Hausherrin, ist geprägt von moralischer Strenge und der Sorge um den sozialen Ruf. Die Gouvernante wird entlassen, nachdem ihre Schwangerschaft bekannt wird, was auf die starren sozialen Normen und den fehlenden Spielraum für Mitgefühl in der damaligen Gesellschaft hinweist.
Warum endet die Novelle mit den Worten „Seit gestern sind sie keine Kinder mehr“?
Diese Worte, gesprochen vom Erzähler am Ende der Novelle, unterstreichen den dramatischen Wandel in der Wahrnehmung der Welt durch die Mädchen. Sie symbolisieren den Übergang von der Kindheit ins Erwachsenenalter, beschleunigt durch die schmerzvolle Erkenntnis der Realitäten des Lebens, die sie durch das Verhalten der Erwachsenen um sie herum erfahren haben.
Wie spiegelt „Die Gouvernante“ die sozialen Bedingungen ihrer Zeit wider?
„Die Gouvernante“ reflektiert die sozialen Bedingungen des frühen 20. Jahrhunderts, insbesondere die strengen sozialen Hierarchien und die moralischen Erwartungen an Frauen. Die Behandlung der Gouvernante und die Reaktionen auf ihre Schwangerschaft zeigen die damaligen gesellschaftlichen Einschränkungen und den Mangel an Unterstützung für Frauen in ähnlichen Situationen.
Welche Bedeutung hat die geheime Beobachtung durch die Mädchen für die Erzählstruktur?
Die geheime Beobachtung durch die Mädchen dient als narrative Technik, die es dem Leser ermöglicht, die Geschichte aus der Perspektive der naiven und unvorbereiteten Kinder zu erleben. Diese Perspektive verstärkt das Gefühl der Unschuld und der schmerzhaften Enthüllungen, die im Zentrum der Novelle stehen.
Die Gouvernante – Buch
Die kurze Erzählung „Die Gouvernante“ von Stefan Zweig erschien erstmals in der Sammlung „Erstes Erlebins“, Insel Verlag, Leipzig 1911.
Hier in einer ungekürzten Neuausgabe, LIWI Verlag, Göttingen 2019.
LIWI Literatur- und Wissenschaftsverlag
EAN: 9783965421530
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Verfasst von Thomas Löding, LIWI Blog, zuletzt aktualisiert am 15. Juni 2024