Daniel Defoe - Die Pest zu London liwi verlag

Die Pest zu London

„Weinen und Klagen fast in jedem Hause, besonders in der ersten Zeit der Seuche. Denn später stumpften sich die Herzen ab. Der Tod war beständig vor unsern Augen, und auch der Verlust der Freunde kümmerte den nicht mehr viel, der vielleicht schon in der nächsten Stunde das eigne Leben zu verlieren erwarten mußte.“

Daniel Defoes berühmter, in Berichtform verfasster Text über die Große Pest von London in den Jahren 1665 und 1666 erschien erstmals 1722 unter dem Titel „A Journal of the Plague Year“. Aufgrund der Corona-Pandemie und der besonders schwierigen Situation in England findet Defoes „Klassiker der Seuchenliteratur“ (Sigrid Löffler im Deutschlandfunk) heute wieder neue Beachtung. Neuausgabe des Klassikers mit einem Nachwort des Übersetzers.

Daniel Defoe.
Die Pest zu London.
Übersetzt von Heinrich Steinitzer.
Mit einem Nachwort des Übersetzers und zwei Abbildungen (Abdruck des Titelblatts der Erstausgabe von 1722 sowie ein Porträt Daniel Defoes aus dem 17./18. Jahrhundert).
Originaltitel: Daniel Defoe: A Journal of the Plague Year, E. Nutt, London 1722.
Durchgesehener Neusatz, diese Ausgabe folgt dem Erstdruck der Übersetzung von Heinrich Steinitzer:
Daniel Defoe: Die Pest zu London. G. Müller Verlag, München 1925 [Ausg. 1924].

Neuausgabe, LIWI Verlag, Göttingen 2020.
LIWI Literatur- und Wissenschaftsverlag

Leseprobe

Das Aussehen Londons war jetzt wirklich sehr verändert. Ich meine die ganze Häusermasse, City, Vorstädte, Westminster, Southwark, alles zusammen. Die eigentliche Stadt, innerhalb der Stadtmauern, war noch nicht stark verseucht. Aber doch war, wie gesagt, das allgemeine Aussehen ein anderes geworden. Sorge und Trauer zeigten sich auf allen Gesichtern, und obschon einige Stadtteile noch ziemlich frei waren, sahen doch alle Leute sehr bekümmert aus. Immer näher sahen wir die Seuche kommen, und jeder mußte sich selbst und seine Familie für aufs äußerste gefährdet halten. Wäre es möglich, jenen, die sie nicht erlebt haben, diese Zeit ganz vor Augen zu bringen, und den Lesern eine richtige Vorstellung von dem Grauen zu geben, das überall herrschte, so müßte es ihnen einen unauslöschlichen Eindruck machen und sie mit höchster Bestürzung erfüllen. Man kann wohl sagen, daß ganz London in Tränen schwamm. Zwar gingen die Trauernden nicht auf die Straße, kleideten sich auch nicht in Schwarz, nicht einmal für die nächsten Freunde, aber die Stimme der Trauer hallte doch durch alle Straßen. Das Geschrei der Frauen und Kinder an den Fenstern und Haustüren, hinter denen die nächsten Anverwandten vielleicht im Sterben oder schon als Leichen lagen, war so häufig zu hören, während man durch die Straßen ging, daß es auch dem Mutigsten durch Mark und Bein gehen mußte. Weinen und Klagen fast in jedem Hause, besonders in der ersten Zeit der Seuche. Denn später stumpften sich die Herzen ab. Der Tod war beständig vor unsern Augen, und auch der Verlust der Freunde kümmerte den nicht mehr viel, der vielleicht schon in der nächsten Stunde das eigne Leben zu verlieren erwarten mußte.

Die Geschäfte führten mich zuweilen an das andere Ende der Stadt, als die Seuche dort am stärksten herrschte, und da mir wie übrigens jedem andern die Sache noch neu war, sah ich mit keiner kleinen Überraschung, wie verödet die sonst so belebten Straßen waren, in denen man kaum hier und da einen Menschen antraf. Wäre ich ein Fremder gewesen, hätte ich manchmal ganze Straßen lang, wenigstens was die Nebengassen betrifft, kein lebendes Wesen gefunden, um nach dem Wege zu fragen, außer den Wachleuten, die vor den abgesperrten Häusern aufgestellt waren, welchen Umstand ich gleich näher erklären werde.

Als ich eines Tages in einer besonderen Angelegenheit in jenem Teile der Stadt war, bewog mich die Neugier, alles genauer als sonst zu betrachten. Ich ging daher eine große Strecke weiter, wo ich eigentlich nichts zu tun hatte. In Holborn waren viele Leute auf der Straße, aber sie gingen alle in der Mitte, weder rechts noch links, um, wie ich vermute, ein Zusammentreffen mit jedem zu vermeiden, der etwa aus einem Hause herauskäme, und auch, um den Gerüchen zu entgehen, die aus den verseuchten Häusern drangen.

Die Rechtskollegien waren alle geschlossen, und auch im Temple, in Lincolns Inn oder Grays Inn fand man nur wenige Rechtsanwälte. Es gab keine Prozesse mehr, also hatten sie nichts zu tun, abgesehen von den Gerichtsferien, die die meisten dazu benutzten, aufs Land zu gehen. An einigen Plätzen waren ganze Häuserreihen sorgsam verschlossen. Die Bewohner waren alle geflohen, nur ein oder zwei Wachleute zu sehen.

Wenn ich sage, daß ganze Häuserreihen verschlossen waren, so meine ich nicht, daß das auf Befehl der Behörden geschehen war. Eine Menge Leute waren dem Hofe gefolgt, in dessen Diensten sie standen, und auch andere waren aus Angst vor der Pest geflohen, so daß manche Straßen völlig verödet erschienen. Die Furcht war damals in der eigentlichen City noch lange nicht so groß, denn wenn auch anfangs dort ein unaussprechliches Entsetzen überhandnahm, ging die Seuche zuerst doch oft wieder zurück, so daß die Leute wiederholt aufgeschreckt wurden und sich dann wieder beruhigten, bis sie sich endlich daran gewöhnten. Selbst wenn die Seuche dann von neuem heftiger auftrat, verloren sie nicht mehr den Mut, weil sie sahen, daß sie sich nicht sofort in der City, den östlichen und südlichen Teilen verbreitete. Und außerdem war alles ein wenig abgestumpft. Es ist nicht zu leugnen, daß eine ungeheure Masse Volkes geflohen war, aber hauptsächlich aus den westlichen Stadtteilen und jenen, die man das Herz der City nennt, also vornehmlich reiche Leute oder solche, die weder Beruf noch Geschäft hatten. Die andern waren im allgemeinen geblieben, in Erwartung des Schlimmsten, so in den äußern Bezirken und Vorstädten, in Southwark, Ratcliff, Stepney, Rotherhithe und da herum, bis auf die wenigen Wohlhabenderen, die unabhängig waren.

Man darf nicht vergessen, daß beim Ausbruch der Seuche London mit all seinen Vorstädten richtig überfüllt an Menschen war. Wenn auch seither die Bevölkerung weiter mächtig zugenommen hat, so waren doch damals, nach Beendigung des Krieges, Auflösung der Heere, und Wiederherstellung der Monarchie die Leute haufenweise nach London gekommen, um sich dort geschäftlich niederzulassen oder bei Hofe Anstellung, Belohnung für geleistete Dienste und was dem mehr ist, zu suchen. Man nahm an, daß auf solche Weise die Stadtbevölkerung um mehr als 100 000, ja, wie manche behaupteten, aufs Doppelte gestiegen war. Strömten doch all die zugrunde gerichteten Familien der Königspartei hier zusammen, all die verabschiedeten Soldaten, die sich nun um irgendeinen Handel umsahen, und auch außerdem eine Masse Menschen. Denn der Hof erschien in Pracht und neuem Glanze, das Geld flog nur so hinaus, und die Befriedigung über die Wiederherstellung des Königtums zog nicht wenige Familien nach der Hauptstadt.

Aber nun wieder zurück zum Beginn dieser erstaunlichen Zeit, als die Angst des Volkes erst im Entstehen war. Mehrere seltsame Ereignisse kamen dazu, sie zu verstärken, und wenn man sie nebeneinander hält, muß man sich wirklich wundern, daß nicht das ganze Volk, wie ein Mann, die Heimstätten verließ und sich aus einem Orte flüchtete, den der Fluch des Himmels getroffen hatte, mit allem, was in ihm lebte, vom Erdboden zu verschwinden. Ich will nur einiges davon anführen, von dem vielen, mit dem die Hexenmeister und Schlauköpfe einen solchen Schwindel trieben, daß ich nicht erstaunt gewesen wäre, wenn alle, besonders die Frauen, die Stadt verlassen hätten.

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