Die Welt von Gestern - Stefan Zweig

Der Amokläufer

„Dann kam dies Ticken wieder in die Schläfen, alles schwankte und kreiste: und gerade vor ihrem Bett fiel ich zusammen … so … so wie der Amokläufer am Ende seines Laufs sinnlos niederfällt mit zersprengten Nerven.“

(Stefan Zweig, Der Amokläufer)

Der zur Entstehungszeit der Novelle noch wenig bekannte Begriff „Amok“ entstammt der indonesischen Kultur und beschreibt den blindwütigen, rauschhaften Angriff auf einen Feind ohne Rücksicht auf alle Gefahren. So wie auch andere Novellen Zweigs von den Ideen Sigmund Freuds beinflusst sind, hat auch „Der Amokläufer“ einen psychologischen Hintergrund. Der Held der Erzählung, ein Leipziger Arzt, erlebt in Indonesien eine rauschhafte Besessenheit, für die er seinen Beruf und letztlich auch sein Leben opfert.

„Der Amokläufer“ – Zusammenfassung

„Der Amokläufer“ ist eine der bekanntesten Novellen von Stefan Zweig, veröffentlicht erstmals 1922. Die Geschichte untersucht die dunklen Tiefen menschlicher Obsession und Verzweiflung, eingebettet in eine dramatische Erzählstruktur, die die Leser bis zum tragischen Ende fesselt.

Handlung

Die Novelle beginnt an Bord des Überseedampfers Oceania, auf dem Weg von Indonesien nach Europa im Jahr 1912. Der namenlose Ich-Erzähler trifft während eines nächtlichen Spaziergangs auf Deck einen verstörten und verwirrten Mann, der sich später als Leipziger Arzt herausstellt. Dieser Mann, der jede Gesellschaft meidet, beginnt schließlich, dem Erzähler seine Geschichte zu offenbaren, die den Kern der Novelle bildet.

  • Der Arzt war ursprünglich nach Indonesien geschickt worden, um dort als Arzt in einer abgelegenen Gemeinde zu arbeiten, nachdem er in seiner Heimatstadt wegen einer Affäre mit einer verheirateten Frau in Ungnade gefallen war.
  • In Indonesien trifft er auf eine weiße Frau, die erste, die er seit Jahren gesehen hatte. Sie sucht ihn auf, um einen diskreten Schwangerschaftsabbruch zu erbitten, bietet ihm eine erhebliche Summe Geld an und verlangt, dass er anschließend das Land verlässt. Anstatt das Geld zu akzeptieren, verlangt der Arzt von der Frau eine Nacht mit ihm, was sie empört zurückweist.

Getrieben von einer obsessiven Besessenheit, die der titelgebende „Amoklauf“ symbolisiert, verlässt der Arzt daraufhin seinen Posten und folgt der Frau in eine andere Stadt. Er versucht vergeblich, ihr nahe zu kommen und verfällt in einen Zustand extremer emotionaler Erregung und Verzweiflung.

  • Er schreibt einen langen, verwirrten Brief an die Frau, den sie nur mit einem zerrissenen Papierstreifen beantwortet, auf dem steht: „Zu spät“. Der Arzt interpretiert dies als Zeichen ihrer Verzweiflung und Hoffnung, dass er ihr noch helfen könnte.

Die Geschichte erreicht ihren Höhepunkt, als die Frau stirbt. Es stellt sich heraus, dass sie nach der Zurückweisung des Arztes versucht hatte, die Schwangerschaft durch eine einheimische Engelmacherin beenden zu lassen, was fehlschlug. In ihren letzten Momenten bittet sie den Arzt, ihren Ehemann und die Welt im Unklaren über die wahre Ursache ihres Todes zu lassen.

  • Der Arzt überredet den zuständigen Amtsarzt, einen falschen Totenschein auszustellen und verspricht, Indonesien für immer zu verlassen.
  • Auf dem Schiff zurück nach Europa nimmt er sich das Leben, indem er sich bei der nächtlichen Überführung des Sarges der Frau ins Meer stürzt.

Themen und Interpretation

„Der Amokläufer“ erforscht Themen wie Obsession, Schuld, und die Zerstörung des Selbst durch unerwiderte Leidenschaft. Zweig nutzt den Amoklauf als Metapher für den inneren Zustand des Arztes, eine unkontrollierbare emotionale Spirale, die schließlich zu seinem Untergang führt. Die Geschichte hinterfragt die Grenzen der menschlichen Psyche und die verheerenden Auswirkungen von Isolation und Entfremdung.

Kritische Rezeption

Die Novelle wurde für ihre intensive psychologische Darstellung und die meisterhafte Nutzung von Spannung und Atmosphäre gelobt. Zweigs Fähigkeit, tief in die dunklen Ecken der menschlichen Seele zu blicken, macht „Der Amokläufer“ zu einem eindringlichen Werk, das Leser und Kritiker gleichermaßen fasziniert und herausfordert.

„Der Amokläufer“ bleibt ein bedeutendes Werk in Stefan Zweigs Oeuvre und ein wichtiger Beitrag zur Literatur des frühen 20. Jahrhunderts, der die Komplexität menschlicher Emotionen und die potenziell destruktiven Pfade, die sie einschlagen können, aufzeigt.

„Der Amokläufer“ – Häufige Fragen

Was ist die Hauptthematik in „Der Amokläufer“?

„Der Amokläufer“ von Stefan Zweig erkundet tiefgreifend die Themen der Obsession und Selbstzerstörung. Die Novelle beleuchtet, wie eine extreme Besessenheit das Leben einer Person destabilisieren und zu drastischen, selbstzerstörerischen Handlungen führen kann. Dies wird durch die Handlung des Protagonisten, eines Arztes, illustriert, der seine berufliche und persönliche Integrität aufgibt, um einer unerreichbaren Liebe nachzujagen.

Wie spiegelt „Der Amokläufer“ Zweigs Interesse an der Psychologie wider?

Stefan Zweig war stark von der Psychoanalyse Sigmund Freuds beeinflusst, was in „Der Amokläufer“ deutlich wird. Die Novelle untersucht die psychologischen Tiefen des Protagonisten, seine innere Zerrissenheit und die psychologischen Kräfte, die ihn zu seinem letztendlichen Freitod treiben. Zweigs Darstellung der psychologischen Mechanismen, die zu extremem Verhalten führen, zeigt seine Faszination für die Komplexität der menschlichen Psyche.

Was bedeutet der Begriff „Amok“ in der Novelle?

In „Der Amokläufer“ wird der Begriff Amok verwendet, um einen Zustand extremer emotionaler Erregung und unkontrollierter Wut zu beschreiben, der den Protagonisten überkommt. Ursprünglich aus der malaiischen Sprache stammend, wo er einen gewalttätigen Wutausbruch bezeichnet, symbolisiert der Begriff in der Novelle die innere Verfassung des Arztes, der in einer blinden, irrationalen Leidenschaft agiert, die ihn und andere in Gefahr bringt.

Wie endet „Der Amokläufer“?

Die Novelle endet tragisch mit dem Selbstmord des Protagonisten. Nach einer Reihe von verzweifelten Versuchen, eine Frau zu erreichen, die er nicht haben kann, und nachdem er in einem Akt der Verzweiflung versucht hat, ihre Ehre nach ihrem Tod zu bewahren, stürzt er sich in Neapel ins Meer, zusammen mit dem Sarg der Frau. Diese dramatische Szene unterstreicht das zentrale Thema der Selbstzerstörung und den unausweichlichen Untergang, der oft aus unkontrollierbarer Besessenheit folgt.

Wie reflektiert „Der Amokläufer“ Zweigs kritische Sicht auf die Gesellschaft?

In „Der Amokläufer“ kritisiert Stefan Zweig subtil die gesellschaftlichen Konventionen und die sozialen Zwänge, die den Protagonisten in seine verzweifelte Lage treiben. Der Druck, bestimmte soziale und berufliche Erwartungen zu erfüllen, und die Unmöglichkeit, gegen die Normen zu verstoßen, ohne gesellschaftliche oder persönliche Konsequenzen zu erleiden, spiegeln Zweigs allgemeine Kritik an einer unflexiblen und oft ungerechten Gesellschaft wider.

„Der Amokläufer“ – Buch

Erstdruck in der Tageszeitung Neue Freie Presse (NFP), Wien, 04. Juni 1922.

ISBN: 3965420461
EAN: 9783965420465
Paperback 44 Seiten
Vollständige Neuausgabe, 1. Auflage, Göttingen 2018.
LIWI Literatur- und Wissenschaftsverlag

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Verfasst von Thomas Löding, LIWI Blog, zuletzt aktualisiert am 15. Juni 2024