Jens Peter Jacobsen Die Pest in Bergamo Corona

Die Pest in Bergamo

Die Novelle „Die Pest in Bergamo“ des dänischen Schriftstellers Jens Peter Jacobsen erschien erstmals 1881 unter dem Originaltitel „Pesten i Bergamo“.

Die hier vorliegende Neuausgabe der kongenialen Übersetzung von Mathilde Mann aus Anlass der Corona-Pandemie „wahrt Jacobsens Musikalität“ (DIE ZEIT) und erscheint hier zusammen mit den folgenden Novellen:

Mogens
Ein Schuß in den Nebel
Zwei Welten
Hier sollten Rosen blühen
Die Pest in Bergamo

Jens Peter Jacobsen.
Die Pest in Bergamo.
Novellen.
Aus dem Dänischen übertragen von Mathilde Mann (1859-1925).
Durchgesehener Neusatz, diese Ausgabe folgt dem Erstdruck der Novellen in:
Jens Peter Jacobsens sämtliche Werke, Insel Verlag, Leipzig 1912.

Neuausgabe, LIWI Verlag, Göttingen 2020.
LIWI Literatur- und Wissenschaftsverlag.

Leseprobe:

„Da war Alt-Bergamo oben auf dem Gipfel eines niedrigen Berges, geborgen hinter Mauern und Toren, und da war das neue Bergamo unten am Fuße des Berges, allen Winden offen.

Eines Tages brach die Pest da unten in der neuen Stadt aus und griff fürchterlich um sich; es starben eine Menge Menschen, und die anderen flohen, fort über die Ebene, in alle vier Ecken der Welt. Und die Bürger in Alt-Bergamo zündeten die verlassene Stadt an, um die Luft zu reinigen, aber es half nichts, sie fingen auch an, oben bei ihnen zu sterben, zuerst einer täglich, dann fünf, dann zehn und dann ein paar Dutzend, und als es seinen Höhepunkt erreicht hatte, noch viel mehr.

Und die konnten nicht so fliehen, wie die in der neuen Stadt es getan hatten.

Da waren ja einige, die es versuchten, aber sie mußten ein Leben wie das eines gehetzten Tieres führen, mit Verstecken in Gräben und Brückenkasten, unter Hecken und in den grünen Feldern; denn die Bauern, denen an mehr als einem Ort die Pest von den ersten Flüchtlingen auf die Gehöfte gebracht war, steinigten jede fremde Seele, die sie trafen, von ihrem Gebiet herunter oder schlugen sie ohne Gnade und Barmherzigkeit nieder wie tolle Hunde, in gerechter Notwehr, wie sie meinten.

Sie mußten bleiben, wo sie waren, die Leute aus Alt-Bergamo, und Tag für Tag ward das Wetter wärmer, und Tag für Tag ward die abscheuliche Ansteckung gieriger und gieriger in ihrem Griff. Das Entsetzen steigerte sich gleichsam zum Wahnsinn, und was da an Ordnung und rechtem Regiment gewesen war, das war, als habe die Erde es verschlungen und dafür das Schlimmste entsandt.

Gleich im Anfang, als die Pest ausbrach, hatten sich die Menschen in Einigkeit und Eintracht zusammengeschlossen, hatten achtgegeben, daß die Leichen ordentlich und gut begraben wurden, und hatten jeden Tag dafür gesorgt, daß große Scheiterhaufen auf Märkten und Plätzen angezündet wurden, damit der gesunde Rauch durch die Straßen treiben konnte. Wacholder und Essig waren an die Armen verteilt worden, und vor allen Dingen hatten die Leute früh und spät die Kirchen aufgesucht, einzeln und in Prozessionen, jeden Tag waren sie mit ihren Gebeten da drinnen vor Gott gewesen, und jeden Abend, wenn die Sonne zur Rüste ging, hatten die Glocken aller Kirchen aus ihren Hunderten von schwingenden Schlünden klagend zum Himmel emporgerufen. Und Fasten waren vorgeschrieben worden, und die Reliquien waren jeden Tag auf den Altären ausgestellt gewesen.

Endlich eines Tages, als sie nichts mehr anzufangen wußten, hatten sie vom Altan des Rathauses herab, unter dem Klang von Posaunen und Tuben, die Heilige Jungfrau zum Podesta oder Bürgermeister der Stadt ausgerufen, jetzt und ewiglich.

Aber das half alles nicht; es gab nichts, was half. Und als das Volk das begriff und allmählich fest wurde in dem Glauben, daß der Himmel entweder nicht helfen wollte oder nicht konnte, da legten sie nicht nur die Hände in den Schoß und sagten, daß alles so kommen müsse, wie es kommen sollte, nein, sondern es war, als sei die Sünde aus einer heimlichen, schleichenden Seuche zu einer boshaften und offenbaren, rasenden Pest geworden, die Hand in Hand mit der körperlichen Krankheit danach ausging, die Seele zu morden, so wie jene ihre Leiber vernichtete. So unglaublich waren ihre Taten, so ungeheuer ihre Verhärtung. Die Luft war voll von Lästerung und Gottlosigkeit, von dem Stöhnen der Straßen und dem Heulen der Häuser, und die wildeste Nacht war nicht schwärzer von Unzucht, als ihre Tage es waren.

»Heute wollen wir prassen, denn morgen sind wir tot!« – Es war, als hätten sie das in Musik gesetzt, um es auf mannigfaltigen Instrumenten in einem unendlichen Höllenkonzert zu spielen. Ja, wären nicht alle Sünden schon vorher erfunden gewesen, so wären sie es hier geworden, denn es gab keinen Weg, den sie in ihrer Verwerflichkeit nicht eingeschlagen hätten. Die unnatürlichsten Laster blühten unter ihnen, und selbst so seltene Sünden wie Nekromantia, Zauberei und Teufelsbeschwörung waren ihnen wohlbekannt, denn da waren viele, die vermeinten, bei den Mächten der Hölle den Schutz zu finden, den der Himmel nicht hatte gewähren wollen.

Alles was Hilfsbereitschaft oder Mitleid hieß, war aus den Gemütern geschwunden, jeder hatte nur Gedanken für sich selbst. Der Kranke wurde als gemeinsamer Feind aller angesehen, und geschah es einem Unglücklichen, daß er auf der Straße umfiel, matt von dem ersten Fieberschwindel der Pest, so war da keine Tür, die sich ihm öffnete, sondern mit Lanzenstichen und Steinwürfen wurde er gezwungen, sich aus dem Wege der Gesunden fortzuschleppen.

Und Tag für Tag nahm die Pest zu, die Sommersonne brannte auf die Stadt herab, es fiel kein Regentropfen, es rührte sich kein Wind, und von den Leichen, die in den Häusern verwesten, und von den Leichen, die schlecht in die Erde vergraben waren, ward ein erstickender Gestank erzeugt, der sich mit der stillstehenden Luft der Straßen vermischte und die Raben und die Krähen in Schwärmen und in Wolken herbeilockte, so daß es auf Mauern und auf Dächern schwarz von ihnen war. Und ringsumher auf der Ringmauer der Stadt saßen vereinzelt wunderliche, große, fremdländische Vögel, von weit her, mit raublüsternen Schnäbeln und erwartungsvoll gekrümmten Fängen, und sie saßen da und sahen mit ihren ruhigen, gierigen Augen hinein, als warteten sie nur darauf, daß die unglückliche Stadt zu einer großen Aasgrube werden sollte.“

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