Die Welt von Gestern - Stefan Zweig

Die Bienenfabel

Der englisch-niederländische Sozialphilosoph Bernard Mandeville beschreibt in seinem Hauptwerk „Die Bienenfabel“ eine Bienengemeinschaft, die so lange gedeiht, bis die Bienen beschließen, nach Ehrlichkeit und Tugend zu leben. Als sie ihren Wunsch nach persönlichem Gewinn aufgeben, bricht die Wirtschaft ihres Bienenstocks zusammen. Mandevilles provozierende These – dass private Laster soziale Vorteile schaffen – verursachte einen Skandal.

Doch seine Infragestellung der populären Tugendidee – in der nur selbstloses Verhalten tugendhaft ist – führte zu einer ebenso fruchtbaren wie langandauernden Kontroverse, welche zahlreiche Denker der Moralphilosophie und der Ökonomie beeinflusste. So inspirierte Mandeville etwa Ideen über die Arbeitsteilung und den freien Markt (laissez-faire), Denker wie David Hume und Adam Smith griffen seine Thesen auf; die berühmte „unsichtbare Hand des Marktes“ findet sich Jahrzehnte vor Adam Smith bereits bei Mandeville.

Philosophen wie Jean-Jaques Rousseau, Karl Marx oder moderne Theoretiker wie John Maynard Keynes beziehen Stellung zu – oder gegen – Mandevilles Thesen.

Im Untertitel der Bienfabel zeigt sich bereits formelhaft der Kern seiner Idee, der heute auch als „Mandeville-Paradox“ bekannt ist: „private vices, public benefite“, hier übersetzt mit „Der Einzelnen Laster, des Ganzen Gewinn“.

Seine Ideen und Thesen provozieren Denker und Ökonomen bis heute zu Stellungnahmen, Kontroversen und Diskussionen.
Die vielgelesene Ausgabe seines Werks, herausgegeben von Otto Bobertag, liegt nun in einer ungekürzten Neuausgabe, inkl. der Anmerkungen des Autors sowie einer Einleitung des Herausgebers, vor.

„Die Bienenfabel“ (im Original: „The Fable of the Bees: or, Private Vices, Public Benefits“) ist ein satirisches Werk des englischen Philosophen und Schriftstellers Bernard Mandeville, das erstmals 1705 veröffentlicht wurde. Die Fabel kombiniert Poesie und Prosa, um eine provokative These zu untersuchen: dass individuelle Laster letztendlich zu kollektivem Wohlstand führen können.

Inhalt und Struktur

Das Werk besteht aus mehreren Teilen, darunter:

  1. Die Fabel in Gedichtform,
  2. Kommentar und Erklärung in Prosa,
  3. Eine umfangreiche Abhandlung zu sozialen und ökonomischen Themen.

Die Fabel

Die zentrale Geschichte von Bernard Mandevilles „Die Bienenfabel“ handelt von einem blühenden Bienenstock, der das Symbol für eine wohlhabende und dynamische Gesellschaft ist. In dieser Allegorie sind die Bienen anthropomorphe Wesen, die ein reges Wirtschaftsleben führen. Ihre Gesellschaft prosperiert, weil die Bienen einer Vielzahl von Lastern wie Habgier, Eitelkeit, Neid und Betrug frönen. Diese Laster treiben die wirtschaftliche Aktivität an und schaffen Wohlstand und Fortschritt.

Wirtschaftliche Aktivität durch Laster

  • Habgier: Die Bienen sind durch ihren Wunsch nach immer mehr Reichtum motiviert. Diese Gier treibt sie an, hart zu arbeiten, zu innovieren und nach neuen Wegen zu suchen, um ihre Produktion und ihren Wohlstand zu steigern. Dadurch entstehen Arbeitsplätze und wirtschaftliche Expansion.
  • Eitelkeit: Die Eitelkeit der Bienen führt zu einem hohen Konsum von Luxusgütern. Sie wollen ihre Überlegenheit und ihren Status durch den Besitz und die Zurschaustellung von wertvollen Gütern demonstrieren. Dies kurbelt die Nachfrage an und belebt den Handel und die Produktion.
  • Neid: Der Neid auf den Wohlstand und den Erfolg anderer Bienen spornt die Individuen an, sich noch mehr anzustrengen, um nicht zurückzubleiben. Dieser Wettbewerb führt zu einer ständigen Verbesserung und Effizienzsteigerung in der gesamten Gesellschaft.
  • Betrug: Während Betrug normalerweise als unmoralisch angesehen wird, zeigt Mandeville, dass sogar unehrliche Geschäftspraktiken zur wirtschaftlichen Dynamik beitragen können. Der Drang, durch trickreiche Mittel Vorteile zu erlangen, kann Innovation und Unternehmertum fördern.

Der Umschwung zur Tugendhaftigkeit

Die Fabel erreicht ihren Wendepunkt, als die Bienen plötzlich beschließen, tugendhaft zu werden. Sie erkennen ihre Laster und entscheiden sich kollektiv für ein moralisch einwandfreies Leben. Auf den ersten Blick scheint dies eine positive Entwicklung zu sein, da eine tugendhafte Gesellschaft als Ideal betrachtet wird. Doch die Konsequenzen dieser moralischen Reform sind katastrophal für den Bienenstock.

Folgen der Tugendhaftigkeit

  • Rückgang der wirtschaftlichen Aktivität: Da die Bienen ihre Habgier und Eitelkeit ablegen, sinkt die Nachfrage nach Luxusgütern und die wirtschaftliche Aktivität kommt zum Erliegen. Ohne die treibenden Kräfte des Konsums und der Produktion gibt es keinen Anreiz mehr für Innovation und Arbeitseifer.
  • Weniger Wettbewerb: Der Neid, der zuvor den Wettbewerb angeheizt hat, verschwindet. Dies führt zu einem Rückgang der Leistungsbereitschaft und Effizienz. Die Bienen sind nicht mehr bestrebt, sich zu verbessern oder ihren Nachbarn zu übertreffen.
  • Ehrlichkeit und Transparenz: Während Ehrlichkeit eine tugendhafte Eigenschaft ist, führt sie in diesem Kontext zu einer Verlangsamung der Geschäftstätigkeiten. Die komplizierten und manchmal betrügerischen Methoden, die zuvor für Dynamik sorgten, werden aufgegeben, was zu einem Mangel an kreativen Lösungen und wirtschaftlichem Stillstand führt.

Der Niedergang des Bienenstocks

Der ehemals florierende Bienenstock verfällt in Armut und Chaos. Ohne die individuellen Laster, die die wirtschaftliche Maschinerie angetrieben haben, bricht das gesamte System zusammen. Die Bienen, die nun tugendhaft leben, erkennen, dass ihr Wohlstand und ihre Prosperität untrennbar mit den zuvor verachteten Lastern verbunden waren. Die Tugendhaftigkeit führt zu einer statischen und stagnierenden Gesellschaft, in der die wirtschaftliche Dynamik und der Fortschritt verloren gehen.

Mandeville nutzt diese Allegorie, um zu illustrieren, dass Laster, die oft als moralisch verwerflich gelten, eine entscheidende Rolle in der Förderung des kollektiven Wohlstands spielen können. Seine Fabel stellt die konventionellen moralischen Ansichten in Frage und regt dazu an, die Komplexität der Beziehung zwischen individueller Moral und gesellschaftlichem Wohlstand zu überdenken.

Wichtige Begriffe und Themen

Private Vices, Public Benefits

Mandevilles provokanteste These lautet, dass individuelle Laster (private vices) paradoxerweise das gemeinsame Wohl (public benefits) fördern. Er argumentiert, dass Handlungen, die aus egoistischen Motiven entspringen, oft unbeabsichtigte positive Folgen für die Gesellschaft haben. Zum Beispiel kann der Ehrgeiz eines Einzelnen zu Innovationen und wirtschaftlichem Wachstum führen.

Tugend und Moral

Mandeville stellt die traditionelle Moralvorstellung in Frage. Er behauptet, dass Tugend und Moral oft als Deckmantel für eigennützige Motive verwendet werden und dass eine Gesellschaft, die streng moralisch lebt, wirtschaftlich nicht gedeihen kann. In seiner Sicht ist Heuchelei ein notwendiges Übel, da sie das moralische Ansehen wahrt, während gleichzeitig wirtschaftliche Aktivitäten gefördert werden.

Wirtschaft und Gesellschaft

Die Fabel behandelt auch die Mechanismen der Wirtschaft und die Dynamik der sozialen Klassen. Mandeville argumentiert, dass die Luxusgüter und der Konsum der Reichen die Wirtschaft antreiben, Arbeitsplätze schaffen und letztlich allen zugutekommen. Ohne die Nachfrage nach Luxus würden viele wirtschaftliche Aktivitäten zum Erliegen kommen, was zu Arbeitslosigkeit und Armut führen würde.

Gesetz und Ordnung

Mandeville betont die Bedeutung von Gesetzen und staatlicher Ordnung. Während individuelle Laster notwendig für wirtschaftlichen Wohlstand sind, muss der Staat sicherstellen, dass diese Laster nicht zu Anarchie und Chaos führen. Ein starkes Rechtssystem ist notwendig, um die negativen Auswirkungen der Laster zu kontrollieren und die positiven zu fördern.

Rezeption und Einfluss

„Die Bienenfabel“ löste heftige Kontroversen aus und wurde sowohl kritisiert als auch gelobt. Kritiker warfen Mandeville vor, Zynismus und moralischen Relativismus zu fördern. Befürworter hingegen sahen in seiner Analyse eine realistische Beschreibung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Mechanismen. Mandevilles Ideen hatten einen nachhaltigen Einfluss auf die Entwicklung der Wirtschaftstheorie und die Diskussionen über die Rolle der Moral in der Gesellschaft.

Über den Autor: Bernard Mandeville

möglicherweise ein Porträt von Bernard Mandeville

Bernard Mandeville (1670–1733) war ein niederländisch-britischer Philosoph, Arzt und Schriftsteller, der vor allem durch sein Werk „Die Bienenfabel“ bekannt wurde. Mandeville wurde am 15. November 1670 in Rotterdam, Niederlande, geboren. Er stammte aus einer wohlhabenden Hugenottenfamilie, die nach den religiösen Konflikten in Frankreich in die Niederlande geflohen war.

Ausbildung und frühe Karriere

Mandeville erhielt seine schulische Ausbildung in Rotterdam und studierte später Medizin an der Universität Leiden, wo er 1691 promovierte. Nach seinem Studium ließ er sich in England nieder, wo er als Arzt und Schriftsteller arbeitete. Seine medizinische Praxis verschaffte ihm ein gutes Einkommen, aber es waren seine literarischen und philosophischen Arbeiten, die ihm Bekanntheit und später auch Kontroversen einbrachten.

Philosophische Einflüsse und Arbeiten

Mandeville war stark von der Aufklärung und den Ideen der frühen modernen Philosophie beeinflusst. Seine Schriften sind geprägt von einem scharfen analytischen Verstand und einer Neigung zu satirischer Darstellung. Zu seinen bedeutendsten philosophischen Einflüssen gehörten Thomas Hobbes und David Hume.

Seine berühmtesten Werke neben der „Bienenfabel“ umfassen:

  • „A Treatise of the Hypochondriack and Hysterick Passions“ (1711): Ein medizinisches Werk, das sich mit psychischen und physischen Erkrankungen befasste.
  • „Free Thoughts on Religion, the Church, and National Happiness“ (1720): Ein kritisches Werk, das die Institutionen der Kirche und den religiösen Glauben untersucht.

Die Bienenfabel: Entstehung und Wirkung

„Die Bienenfabel“ wurde erstmals 1705 als Gedicht mit dem Titel „The Grumbling Hive: or, Knaves Turn’d Honest“ veröffentlicht. In den folgenden Jahren erweiterte Mandeville das Werk um umfangreiche Kommentare und Analysen, bis es 1714 unter dem vollständigen Titel „The Fable of the Bees: or, Private Vices, Publick Benefits“ erschien.

Hauptthesen und Provokationen

Mandeville argumentierte, dass individuelle Laster wie Habgier, Eitelkeit und Betrug paradoxerweise zu kollektivem Wohlstand führen könnten. Diese provokative These stellte die traditionelle Moralvorstellung in Frage und betonte, dass das Streben nach persönlichem Vorteil oft unbeabsichtigte positive Folgen für die Gesellschaft hat.

Seine Ideen lösten heftige Debatten aus und wurden sowohl von Zeitgenossen als auch späteren Denkern kritisch hinterfragt. Besonders die Vorstellung, dass gesellschaftlicher Wohlstand auf individuellen Lastern basiert, stieß auf Ablehnung bei Moralisten und Verfechtern traditioneller Werte.

Kritiken und Verteidigungen

Mandevilles Werk wurde heftig kritisiert:

  • William Law, ein anglikanischer Theologe, griff Mandeville in seinem Werk „The Absolute Unlawfulness of the Stage Entertainment“ an und warf ihm vor, unmoralisches Verhalten zu rechtfertigen.
  • Francis Hutcheson, ein schottischer Philosoph, widersprach Mandeville und verteidigte die Idee, dass Tugendhaftigkeit zu wahrem gesellschaftlichen Wohlstand führen könne.

Trotz der Kritik fanden Mandevilles Ideen auch Unterstützer. Viele Ökonomen und Sozialtheoretiker des 18. Jahrhunderts, darunter Adam Smith, wurden von Mandevilles Analysen beeinflusst, auch wenn sie seine Thesen nicht vollständig akzeptierten.

Spätere Jahre und Vermächtnis

Mandeville setzte seine schriftstellerische Tätigkeit bis zu seinem Tod fort. Er starb am 21. Januar 1733 in Hackney, London. Sein Werk hat einen bleibenden Einfluss auf die Wirtschafts- und Sozialtheorie hinterlassen. „Die Bienenfabel“ wird oft als frühes Werk der Verhaltensökonomie und der Sozialpsychologie betrachtet, das die komplexen Beziehungen zwischen individuellem Verhalten und gesellschaftlichen Ergebnissen erforscht.

Mandeville bleibt eine kontroverse Figur in der Geschichte der Philosophie und Wirtschaftstheorie, geschätzt für seine tiefgehenden Einsichten und kritisiert für seine scheinbare Verherrlichung der menschlichen Laster. Sein Werk fordert die Leser bis heute dazu auf, die Natur der menschlichen Gesellschaft und die Quellen ihres Wohlstands kritisch zu hinterfragen.

Bienenfabel – Buch

Aus dem Inhalt:

Einleitung des Herausgebers
Die Bienenfabel oder Der Einzelnen Laster, des Ganzen Gewinn
Eine Abhandlung über Barmherzigkeit, Armenpflege und Armenschulen
Eine Untersuchung über das Wesen der Gesellschaft
Berkeleys »Alciphron oder der philosophische Kleinmeister« Zweiter Dialog, § 4 und 5
Ein Brief an Dion

Bernard Mandeville - Die BienenfabelBernard Mandeville.
Die Bienenfabel oder Der Einzelnen Laster, des Ganzen Gewinn
Hrsg. v. Otto Bobertag.
Erstdruck des englischen Originals: The Fable of the bees: or, private vices, public benefite. J. Rorerts, London 1714.
Durchgesehener Neusatz, der Text dieser Ausgabe folgt:
Mandevilles Bienenfabel oder Der Einzelnen Laster, des Ganzen Gewinn. Hrsg. v. Otto Bobertag, Verlag G. Müller, München 1914.

Gebundene Ausgabe – Hardcover – mit Lesebändchen.
Neuausgabe, LIWI Verlag, Göttingen 2021.
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