Das Märchen
„Als er vor die Tür hinaus trat, sah er zwei große Irrlichter über dem angebundenen Kahne schweben, die ihm versicherten, daß sie große Eile hätten und schon an jenem Ufer zu sein wünschten. Der Alte säumte nicht, stieß ab und fuhr, mit seiner gewöhnlichen Geschicklichkeit, quer über den Strom (…). Der Kahn schwankt! rief der Alte; und wenn ihr so unruhig seid, kann er umschlagen; setzt euch, ihr Lichter!Sie brachen über diese Zumutung in ein großes Gelächter aus, verspotteten den alten und waren noch unruhiger als vorher.“
Goethes berühmtes Märchen erschien erstmals 1795 als Schlussstück der „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“ in Friedrich Schillers Zeitschrift „Die Horen“. Seitdem hat es viele begeisterte Leser*innen gefunden und Autoren wie beispielsweise Michael Ende zu der Passage mit dem Irrlicht am Anfang der „Unendlichen Geschichte“ inspiriert.
Das Märchen – Zusammenfassung
„Das Märchen“ von Johann Wolfgang von Goethe ist ein kunstvoll gestaltetes Märchen, das reich an Symbolik und tiefer Bedeutung ist. Es wurde erstmals 1795 in der Zeitschrift „Die Horen“ veröffentlicht und ist Teil von Goethes Novellenzyklus „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“.
Handlung
Die Geschichte beginnt „an dem großen Flusse“, wo zwei Irrlichter den alten Fährmann bitten, sie über den Fluss zu setzen. Sie zahlen ihm mit Goldstücken, was den Fährmann beunruhigt, da er fürchtet, das Metall könnte ins Wasser fallen und die Wellen aufwühlen. Er bevorzugt stattdessen neun Früchte der Erde als Bezahlung. Die Irrlichter versprechen dies, um sich lösen zu können.
Der Fährmann bringt das Gold zu einer tiefen Kluft im Gebirge, wo eine schöne grüne Schlange lebt. Beim Klang des fallenden Metalls erwacht die Schlange, verschlingt das Gold, wird durchsichtig und beginnt zu leuchten. Von ihrem eigenen Licht angelockt, begibt sich die Schlange auf Wanderschaft. Sie trifft wieder auf die Irrlichter, die nun zum Palast der Lilie wollen, der sich auf der anderen Seite des Flusses befindet. Die Schlange empfiehlt ihnen, die Schlangen- oder Schattenbrücke für die Überquerung zu nutzen, da der Fährmann sie nicht zurückbringen darf.
Die Schlange kriecht zu einem dunklen unterirdischen Heiligtum, wo sie vier Königsstatuen mit ihrem Licht beleuchtet. Dort begegnet sie einem alten Mann, und nach einem rätselhaften Frage-Antwort-Spiel ruft er aus, dass es an der Zeit sei. Dies führt zu einer großen Verwandlung: Die Szenerie ändert sich, die Schlange verschwindet nach Osten und der alte Mann nach Westen.
Die Frau des alten Mannes erzählt ihm von den unartigen Irrlichtern, die ihr Gold gebracht haben. Ihr Mops hat Goldstücke gefressen und ist gestorben. Der alte Mann verwandelt den Hund in einen Onyx und schickt seine Frau zum Fährmann und zur Lilie. Die Lilie kann Totes zum Leben erwecken, aber auch Lebendes durch Berührung töten.
Auf ihrem Weg wird die Frau des alten Mannes vom Gewaltigen Riesen beraubt. Als sie den Fluss überquert, verbürgt sie sich für den Ersatz der Früchte und lässt dem Fährmann ihre Hand als Pfand. Mit dem Prinzen, der von der Lilie seiner Kraft beraubt wurde, überquert sie den Fluss auf einer von der Schlange gebildeten Brücke.
Die Lilie, der Prinz und die Schlange ziehen gemeinsam zum Heiligtum, wo der alte Mann und die Irrlichter auf sie warten. Auf sein Kommando erscheint ein Tempel und es geschehen weitere Verwandlungen: Der Fährmanns Hütte wird zum Altar, die alten Könige übergeben ihre Kräfte an den Prinzen, und die Lilie wird durch die Kraft der Liebe zur Königin erhoben.
Wichtige Themen und Symbole
Die Handlung des Märchens ist durchzogen von tiefen symbolischen Bedeutungen und Anspielungen auf philosophische und gesellschaftliche Fragen. Die Schlange, die Lilie, die Irrlichter und andere Elemente symbolisieren verschiedene Kräfte der Natur und des Geistes.
Das Märchen diskutiert die Beziehung zwischen Wissen, Macht und Schönheit und erkundet die Möglichkeit einer harmonischen Weltordnung durch das Gleichgewicht dieser Kräfte. Goethe verwebt hier mystische und alchemistische Elemente, um eine Welt zu schaffen, in der Liebe und Weisheit die höchsten Güter darstellen.
Historischer Kontext
Das Märchen wurde in einer Zeit großer politischer Umwälzungen geschrieben, kurz nach der Französischen Revolution. Diese historischen Ereignisse bilden den Hintergrund für die Themen von Macht und gesellschaftlicher Erneuerung, die im Märchen angesprochen werden.
Insgesamt ist „Das Märchen“ ein komplexes Werk, das sowohl zur Unterhaltung als auch zur tiefgründigen Reflexion einlädt. Es bleibt eines der faszinierendsten literarischen Werke Goethes, reich an mehrdeutigen Symbolen und philosophischer Tiefe.
Das Märchen – Rezeption
Rudolf Steiner
Rudolf Steiner, der Gründer der Anthroposophie, sah in Goethes „Märchen“ eine tiefgreifende esoterische Bedeutung, die er als Ausgangspunkt für seine eigenen philosophischen und spirituellen Werke nutzte.
In seinem Vortrag „Goethes geheime Offenbarung“, gehalten 1900, und einem begleitenden Artikel aus 1899, entwickelte Steiner die Idee, dass Goethes intuitive und bildreiche Herangehensweise an geistige und seelische Prozesse eine wesentliche Inspiration für die Anthroposophie darstellte.
Dieser Ansatz stand im Kontrast zu den rationaleren, begrifflich orientierten Methoden Schillers, die Goethe als zu simpel für die Darstellung des echten Seelenlebens ansah. Steiners tiefes Interesse an Goethes Werk, insbesondere an dessen Fähigkeit, komplexe innere Vorgänge durch lebendige Bilder statt durch trockene Begriffe darzustellen, führte ihn dazu, seine eigenen Mysteriendramen und die gesamte Lehre der Anthroposophie darauf aufzubauen.
Goethes Einfluss auf Steiner zeigte sich besonders deutlich in dessen ersten Mysteriendrama „Die Pforte der Einweihung“, das strukturell und thematisch Anklänge an Goethes Märchen aufweist und die Verbindung von übersinnlichen Imaginationen mit irdischen Darstellungen thematisiert.
Michael Ende
Ende lässt seinen Roman „Die unendliche Geschichte“ mit einem Irrlicht beginnen, als die Schilderung Phantasiėna beginnt. Später nahm Ende Goethes Märchen mit in einen Band von Autoren auf, die ihn zu seinem Schreiben inspiriert haben.
Goethe als Märchen- und Prosautor
Johann Wolfgang von Goethe, eine Schlüsselfigur der deutschen Literatur, bewies seine vielseitige erzählerische Meisterschaft durch die Erschaffung epischer Werke, die fast alle Formen der epischen Literatur umfassen. Zu seinen herausragenden Werken gehören der Briefroman Die Leiden des jungen Werthers, ein revolutionäres Werk, das die Form des Briefromans radikalisierte und Goethe früh zu europäischem Ruhm verhalf. Dieser Roman führte zu einer kulturellen Bewegung, bekannt als die „Werther-Mode“, und prägte tiefgreifend die empfindsame Literaturströmung seiner Zeit. Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften wiederum erkundet in einer fast experimentellen Anordnung menschliche Beziehungen durch das Prisma chemischer Gesetze und markiert den Beginn der europäischen Ehebruchromane.
Ein weiterer zentraler Punkt in Goethes Prosaschaffen sind die Wilhelm Meister-Romane, die als wegweisend für den Bildungs- und Entwicklungsroman gelten und insbesondere den realistischen Erzählern des 19. Jahrhunderts als Vorbilder dienten. Wilhelm Meisters Lehrjahre und die offener gestalteten Wanderjahre zeigen Goethes Fähigkeit,
Das Märchen – Buch
Johann Wolfgang von Goethe.
Das Märchen.
Erstdruck in: Die Horen, Cotta’sche Verlagsbuchhandlung, Tübingen 1795.
Durchgesehener Neusatz, der Text dieser Ausgabe folgt:
Johann Wolfgang von Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe, München 1999.
Neuausgabe, LIWI Verlag, Göttingen 2020.
EAN: 9783965423886
ISBN: 3965423886
Empfohlen 8 bis 12 Jahre. Paperback.
LIWI Literatur- und Wissenschaftsverlag
Oktober 2020 – 32 Seiten
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Verfasst von Thomas Löding, LIWI Blog, zuletzt aktualisiert am 15. Juni 2024