Unvermutete Bekanntschaft mit einem Handwerk
„Taschendiebstahl (…) auf einem Boulevard, ich weiß es jetzt, ist eine Mutleistung höchsten Ranges, und ich empfinde es seitdem als gewisse Ungerechtigkeit, wenn die Zeitungen diese Art Diebe gleichsam als die Belanglosen unter den Übeltätern in einer kleinen Rubrik mit drei Zeilen abtun. Denn von allen Handwerken, den erlaubten und unerlaubten unserer Welt, ist dies eines der schwersten, der gefährlichsten: eines, das in seinen Höchstleistungen beinahe Anspruch hat, sich Kunst zu nennen. Ich darf dies aussprechen, ich kann es bezeugen, denn ich habe es einmal, an jenem Apriltage, erlebt und mitgelebt.“
Der Erzähler gerät, versunken in die Beobachtung eines Taschendiebes, in Verzückung über dessen präzise Kunst. Minutiös beobachtet schildert Zweig in dieser Novelle sprachlich brilliant die ungwöhnliche Kunstfertigkeit des Diebes.
Zusammenfassung
Unvermutete Bekanntschaft mit einem Handwerk ist eine Novelle von Stefan Zweig aus dem Jahr 1931.
Entstehung und Veröffentlichung:
Die Novelle wurde vermutlich 1931 in Paris geschrieben und erschien drei Monate nach Zweigs Emigration nach England als Fortsetzungsgeschichte in der Wiener Neue Freie Presse vom 20. Mai bis 17. Juni 1934.
Handlung:
Nach einer zweijährigen Abwesenheit kehrt der Erzähler im April 1931 nach Paris zurück und verbringt einen Vormittag auf dem Boulevard de Strasbourg. Dort beobachtet er eine Menschentraube vor einem Schaufenster, wo drei Äffchen ihre Kunststücke vorführen. Inmitten der schaulustigen Menge fällt ihm ein heruntergekommener Mann auf, der sich in seinem abgetragenen Mantel offensichtlich wohlfühlt. Der Erzähler versucht, die Profession des Unbekannten zu erraten, kann ihn jedoch nicht als Bettler, Arbeiter oder Fremdenführer identifizieren. Er vermutet schließlich, dass der Mann ein „amtliches Handwerk“ ausübt – möglicherweise ein Detektiv. Doch der schäbige Zustand seiner Kleidung spricht dagegen.
Schließlich kommt der Erzähler zu dem Schluss, dass der Mann ein Taschendieb sein muss. Diese gefährliche Tätigkeit erfordert eine bemerkenswerte Selbstbeherrschung, die der Erzähler mit der eines Chirurgen vergleicht, da der Patient während der Operation ruhiggestellt ist. Der Erzähler sieht in solchen Fähigkeiten eine künstlerische Komponente: Während ein Amateur – wie der Erzähler selbst – ungeduldig agieren würde, zeigt der erfahrene Dieb geduldiges Abwarten.
Neugierig geworden, folgt der Erzähler dem Dieb über die Chaussée d’Antin in die Rue Drouot. Bei einer Versteigerung im Hôtel Drouot beobachtet er den Dieb weiter und wird schließlich selbst zum Ziel eines Diebstahlversuchs. Der Dieb greift nach der Brieftasche des Erzählers, doch dieser ist wachsam genug, um den Angriff zu bemerken und ohne Schaden davonzukommen. Der Erzähler lässt den Dieb unbehelligt entkommen und beendet damit seine unfreiwillige Lektion in der Kunst des Diebstahls.
LIWI Verlag, Göttingen 2019.
EAN: 9783965421677
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