Die Welt von Gestern - Stefan Zweig

Der Doppelgänger

„Es war beinahe acht Uhr morgens, als der Titularrat Jakow Petrowitsch Goljadkin nach einem langen Schlafe erwachte, gähnte, sich reckte und schließlich völlig die Augen öffnete. Etwa zwei Minuten lang blieb er noch, ohne sich zu regen, auf dem Bette liegen, wie ein Mensch, der noch nicht ganz ins klare darüber gekommen ist, ob er aufgewacht ist oder noch schläft, ob alles, was jetzt um ihn herum vorgeht, Wahrheit und Wirklichkeit ist oder eine Fortsetzung seiner wirren Träume.“

Fjodr Michailowitsch Dostojewski.
Der Doppelgänger.
Hier in der vielgelesenen Übertragung von Hermann Röhl.
Erstdruck dieser Übersetzung: Insel Verlag, Leipzig 1923.
Neuausgabe: LIWI Verlag, Göttingen 2019.

Zusammenfassung / Inhaltsangabe

„Der Doppelgänger“ ist eine faszinierende Erzählung von Fjodor Michailowitsch Dostojewski, die tief in die Abgründe der menschlichen Psyche und Identität eintaucht.

Die Geschichte folgt dem Leben von Jakow Petrowitsch Goljadkin, einem niedrigrangigen Regierungsbeamten in Sankt Petersburg, der zunehmend von Paranoia und dem Gefühl der Isolation geplagt wird.

Goljadkins Leben nimmt eine bizarre Wendung, als er plötzlich seinem exakten Doppelgänger begegnet, einem Mann, der nicht nur äußerlich identisch mit ihm ist, sondern auch seinen Namen trägt und beginnt, sein Leben zu übernehmen.

Der Kampf zwischen Goljadkin und seinem Doppelgänger eskaliert, wobei die Grenzen zwischen Realität und Wahnvorstellung immer mehr verschwimmen, was den Protagonisten in einen tiefen psychischen Abgrund stürzt.

Der Roman endet mit Goljadkins endgültigem Verlust der Identität und dem Zusammenbruch seiner psychischen Gesundheit, was den Leser mit tiefgreifenden Fragen nach Selbst, Realität und Wahnsinn zurücklässt.

Analyse und Interpretation

„Der Doppelgänger“ wird oft als eine der frühesten und eindrucksvollsten Darstellungen des Themas des Doppelgängers in der Literatur betrachtet, ein Motiv, das später von vielen anderen Autoren aufgegriffen wurde.

Dostojewski nutzt die Figur des Doppelgängers, um die Zerrissenheit des modernen Menschen und die tiefen Unsicherheiten bezüglich seiner Identität und seines Platzes in der Gesellschaft zu erforschen.

Die Erzählung kann als eine tiefgründige Untersuchung der menschlichen Psyche interpretiert werden, in der Themen wie Einsamkeit, Entfremdung und der Kampf um Anerkennung zentrale Rollen spielen.

Gleichzeitig wirft der Roman Fragen nach der Natur der Realität und der Zuverlässigkeit der eigenen Wahrnehmung auf, indem er die Leser dazu bringt, die Grenzen zwischen dem Ich und dem Anderen zu hinterfragen.

„Der Doppelgänger“ ist auch ein kritischer Kommentar zu den sozialen und bürokratischen Strukturen Sankt Petersburgs im 19. Jahrhundert, die eine Atmosphäre der Entmenschlichung und des psychologischen Drucks schaffen, in der Goljadkins Tragödie gedeiht.

Sprache und Stil

Die Sprache in „Der Doppelgänger“ ist geprägt von einer Intensität und Direktheit, die die psychische Zerrüttung des Protagonisten und die beklemmende Atmosphäre seiner Welt einfängt.

Dostojewski verwendet einen komplexen Erzählstil, der zwischen inneren Monologen, realistischen Dialogen und beschreibenden Passagen wechselt, um eine dichte psychologische Landschaft zu erschaffen.

Die Übersetzung von Hermann Röhl wird für ihre Genauigkeit und Fähigkeit gelobt, die nuancierte und oft beklemmende Atmosphäre von Dostojewskis Originaltext beizubehalten.

Der Roman zeichnet sich durch eine innovative Struktur aus, die den Leser tief in das psychologische Labyrinth des Protagonisten führt, wobei die fließenden Grenzen zwischen Realität und Einbildungskraft meisterhaft dargestellt werden.

Durch seinen einzigartigen sprachlichen und stilistischen Ansatz gelingt es „Der Doppelgänger“, die Leser in eine Welt zu ziehen, in der die Suche nach Identität und die Konfrontation mit dem eigenen Ich zu einer obsessiven und letztlich zerstörerischen Quest werden.

Wichtige Figuren

Jakow Petrowitsch Goljadkin, der Hauptprotagonist des Romans, ist ein kleiner Beamter, dessen Leben durch die Erscheinung seines Doppelgängers in ein Chaos gestürzt wird. Seine Figur steht im Zentrum der Untersuchung von Identität, Paranoia und Isolation.

Der Doppelgänger von Goljadkin, der ebenfalls den Namen Jakow Petrowitsch Goljadkin trägt, repräsentiert die dunklen, unterdrückten Aspekte des Hauptprotagonisten und wird zur Quelle seines Untergangs. Diese Figur dient als Katalysator für die zentralen Themen des Romans: Selbstentfremdung und die Suche nach dem wahren Selbst.

Weitere Charaktere, wie Kollegen und Bekannte Goljadkins, spielen eine unterstützende Rolle, indem sie die sozialen Dynamiken und die Atmosphäre innerhalb der bürokratischen Maschinerie Sankt Petersburgs widerspiegeln.

Literarische Epoche und historischer Hintergrund

„Der Doppelgänger“ wurde 1846 veröffentlicht und gehört zu Dostojewskis frühen Werken, geschrieben in einer Zeit, als der Autor seine literarische Stimme in der russischen Literaturszene zu etablieren begann.

Diese Periode war geprägt von sozialen und politischen Umwälzungen in Russland, die den Boden für literarische Werke bereiteten, die sich mit Fragen der sozialen Gerechtigkeit, der menschlichen Psyche und der Kritik an den bestehenden sozialen Strukturen auseinandersetzten.

Der Roman reflektiert die zunehmende Besorgnis über die Entfremdung des Individuums in der modernen Gesellschaft und die psychologischen Auswirkungen des städtischen Lebens in der sich schnell verändernden Welt des 19. Jahrhunderts.

Vergleich zu Werken anderer Autoren mit dem Doppelgängermotiv

„Der Doppelgänger“ von Fjodor Michailowitsch Dostojewski stellt in der Literaturgeschichte einen frühen und einflussreichen Beitrag zum Doppelgängermotiv dar, einem Thema, das von vielen Autoren in unterschiedlichen kulturellen und historischen Kontexten aufgegriffen wurde.

Im Vergleich zu späteren Werken, wie etwa „Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ von Robert Louis Stevenson oder „Das Bildnis des Dorian Gray“ von Oscar Wilde, fokussiert sich Dostojewski stärker auf die psychologische und existenzielle Dimension des Doppelgängers. Während Stevenson und Wilde das Motiv nutzen, um Fragen der Moral, der Ethik und der Gesellschaft zu erkunden, konzentriert sich Dostojewski auf die innere Zerrissenheit und die Identitätskrise des Individuums.

E.T.A. Hoffmanns „Die Doppelgänger“ zeigt ebenso Parallelen zu Dostojewskis Werk, indem beide Autoren die Unheimlichkeit und die psychologische Komplexität des Doppelgängermotivs hervorheben. Doch während Hoffmanns Erzählung in die Welt des Übernatürlichen abdriftet, bleibt Dostojewski fest in der realen psychologischen Erfahrung seines Protagonisten verwurzelt.

Im Vergleich zu diesen Werken zeichnet sich Dostojewskis Ansatz durch eine tiefere introspektive Analyse und eine nuancierte Darstellung der Ambivalenz der menschlichen Natur aus. Sein Interesse gilt weniger den äußeren Konsequenzen der Begegnung mit dem Doppelgänger als vielmehr den inneren Konflikten und der psychologischen Auflösung, die diese Begegnung nach sich zieht.

Dostojewskis Fähigkeit, das Doppelgängermotiv zu nutzen, um die dunklen Seiten der menschlichen Psyche zu erkunden, hat den Roman zu einem wesentlichen Beitrag zum Verständnis des Motivs gemacht und ihn von Werken anderer Autoren abgehoben. Seine Darstellung des Doppelgängers als Verkörperung der inneren Konflikte und Zerrissenheit des modernen Menschen bleibt einzigartig in der Literatur und beeinflusst bis heute die kulturelle Auseinandersetzung mit dem Thema.

Häufige Fragen und Antworten

Was unterscheidet „Der Doppelgänger“ von anderen Werken Dostojewskis?

„Der Doppelgänger“ sticht durch seine Fokussierung auf das psychologische Phänomen des Doppelgängers und die tiefgründige Erkundung von Identität und Selbstentfremdung hervor, ein Thema, das in der Literatur des 19. Jahrhunderts selten so intensiv behandelt wurde.

Wie wurde „Der Doppelgänger“ kritisch aufgenommen?

Bei seiner Veröffentlichung erhielt der Roman gemischte Kritiken, wobei einige die psychologische Tiefe und Innovativität lobten, während andere die komplexe Erzählstruktur und die düstere Thematik als schwer zugänglich empfanden. Im Laufe der Zeit hat „Der Doppelgänger“ jedoch eine höhere Wertschätzung erfahren und wird heute als wichtiger Beitrag zur Erforschung der menschlichen Psyche und der literarischen Darstellung des Doppelgänger-Motivs anerkannt.

Hat „Der Doppelgänger“ heute noch Relevanz?

Ja, der Roman bleibt aufgrund seiner zeitlosen Themen der Identitätssuche, der Konfrontation mit dem eigenen Ich und der Erfahrung der Entfremdung hochgradig relevant. Er bietet tiefe Einblicke in die menschliche Natur, die über das 19. Jahrhundert hinaus ansprechen.

Warum sollte man „Der Doppelgänger“ lesen?

„Der Doppelgänger“ sollte gelesen werden, um Dostojewskis meisterhafte Erkundung psychologischer Themen und seine Fähigkeit, komplexe innere Zustände literarisch zu erfassen, zu erleben. Der Roman bietet nicht nur einen fesselnden Einblick in die menschliche Psyche, sondern auch eine tiefgreifende Reflexion über die Bedeutung von Identität in der modernen Welt.

Buchausgabe

Fjodr Michailowitsch Dostojewski.
Der Doppelgänger.
Hier in der vielgelesenen Übertragung von Hermann Röhl.
Erstdruck dieser Übersetzung: Insel Verlag, Leipzig 1923.
Neuausgabe: LIWI Verlag, Göttingen 2019.
LIWI Literatur- und Wissenschaftsverlag

ISBN: 396542162X
148 Seiten

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Verfasst von Thomas Löding, LIWI Blog, zuletzt aktualisiert am 25. März 2024