Die Welt von Gestern - Stefan Zweig

Arme Leute

„Eben wieder verspüre ich dieses Flimmern vor den Augen; kaum, daß man abends ein wenig arbeitet, jemandem schreibt – und schon hat man am nächsten Morgen entzündete Augen, man tränt, muß sich beinahe vor den Leuten schämen! Und trotzdem sah ich im Geiste Ihr Lächeln blinken, mein Engelchen, Ihr gutmütiges, freundliches Lächeln. Und in meinem Herzen hatte ich genau dieselben Gefühle, wie damals, als ich Sie küßte (…)“.

Zusammenfassung / Inhaltsangabe

Arme Leute“ ist der erste veröffentlichte Roman des russischen Schriftstellers Fjodor Dostojewski, erschienen im Jahr 1846. Der Briefroman gibt tiefe Einblicke in das Leben und die sozialen Verhältnisse des 19. Jahrhunderts in Russland und zeichnet sich durch seine detaillierte Charakterzeichnung und sozialkritische Perspektive aus.

Die Handlung dreht sich um den verarmten Beamten Makar Dewuschkin und die junge Waise Warwara Dobrosselow, die in ärmlichen Verhältnissen in Sankt Petersburg leben. Beide sind entfernt miteinander verwandt und führen einen regen Briefwechsel, der den größten Teil des Romans ausmacht. Durch ihre Briefe teilen sie die Freuden und Leiden ihres Alltags, ihre Hoffnungen, Träume und die ständige Sorge um das materielle Überleben.

Makar ist tief in Warwara verliebt, doch seine finanzielle Situation und sein niedriger sozialer Status hindern ihn daran, seine Gefühle offen zu zeigen. Stattdessen versucht er, Warwara mit Geschenken, die er sich kaum leisten kann, ihre Zuneigung zu gewinnen. Warwara hingegen schätzt Makars Fürsorge und Zuneigung, sieht in ihm jedoch eher einen väterlichen Freund als einen potenziellen Ehemann.

Im Verlauf des Romans werden die Protagonisten mit verschiedenen Formen sozialer Ungerechtigkeit konfrontiert, die ihre ohnehin schon prekäre Lage verschärfen. Trotz aller Widrigkeiten bewahren Makar und Warwara ihre Würde und Menschlichkeit, was den Roman zu einem eindringlichen Porträt des Kampfes ums Überleben in einer gleichgültigen Gesellschaft macht.

Arme Leute“ endet mit einer bitteren Note, als Warwara die Möglichkeit erhält, durch eine arrangierte Heirat ihrem Elend zu entkommen, während Makar in seiner Einsamkeit und Armut zurückbleibt. Der Roman schließt mit der impliziten Frage nach dem Wert von Mitgefühl und menschlicher Verbundenheit in einer Welt, die von sozialen und ökonomischen Hierarchien bestimmt wird.

Analyse und Interpretation

Arme Leute“ ist nicht nur eine einfache Erzählung über das Leben zweier verarmter Menschen; der Roman ist vielmehr eine komplexe Untersuchung der menschlichen Natur und der Gesellschaft. Dostojewski stellt die tiefgreifenden psychologischen und emotionalen Auswirkungen von Armut und sozialer Isolation dar und zeigt, wie diese Faktoren das menschliche Verhalten und die zwischenmenschlichen Beziehungen beeinflussen.

Der Briefwechsel zwischen Makar und Warwara bietet einen intimen Einblick in ihre Gedankenwelt und lässt die Leserinnen und Leser an ihren persönlichsten Momenten teilhaben. Diese narrative Technik ermöglicht es Dostojewski, die innere Zerrissenheit und die komplexe Emotionalität seiner Charaktere zu erforschen. Die Briefe dienen als Ventil für ihre Ängste, Hoffnungen und Sehnsüchte und zeichnen ein authentisches Bild des menschlichen Leidens.

Ein zentrales Thema des Romans ist die Frage nach der sozialen Verantwortung und der Rolle des Einzelnen in der Gesellschaft. „Arme Leute“ kritisiert die Gleichgültigkeit und die mangelnde Empathie der wohlhabenderen Klassen gegenüber dem Leid der Armen. Dostojewski wirft damit Fragen nach Gerechtigkeit, Mitgefühl und menschlicher Solidarität auf.

Der Roman zeigt auch, dass Liebe und Freundschaft in Zeiten größter Not überleben können und dass diese zwischenmenschlichen Beziehungen einen unschätzbaren Wert haben. Makars selbstlose Liebe zu Warwara und sein Bestreben, sie um jeden Preis zu unterstützen, stehen im krassen Gegensatz zu den materiellen Werten, die die Gesellschaft hochhält.

Sprache und Stil

In „Arme Leute“ präsentiert Fjodor Dostojewski seinen einzigartigen literarischen Stil, der bereits früh in seinem Werk die tiefgründige psychologische Einsicht und die Fähigkeit zur nuancierten Darstellung sozialer Zustände erkennen lässt.

Der Roman ist als Briefroman konzipiert, eine Form, die es Dostojewski ermöglicht, die innersten Gedanken und Gefühle seiner Charaktere unmittelbar und intensiv zum Ausdruck zu bringen.

Die Sprache spiegelt die soziale Position und die psychologische Verfassung der Charaktere wider, wobei die Briefe zwischen Makar Dewuschkin und Warwara Dobrosselow ermöglichen, einen direkten und emotionalen Einblick in ihr Leben und ihre Sorgen zu gewinnen.

Dostojewski verwendet einen einfühlsamen und mitfühlenden Ton, um die Leiden und kleinen Freuden im Leben der armen Bevölkerung Sankt Petersburgs darzustellen, wobei er ein lebhaftes Bild der russischen Gesellschaft im 19. Jahrhundert zeichnet.

Die Übersetzung von Arnold Wasserbauer wird für ihre Präzision und ihr Einfühlungsvermögen gelobt, die die Essenz von Dostojewskis Originaltext bewahren und den deutschsprachigen Lesern zugänglich machen.

Wichtige Figuren

Makar Alexejewitsch Dewuschkin, ein kleiner Beamter in Sankt Petersburg, ist eine der Hauptfiguren des Romans. Seine Briefe an Warwara enthüllen seine Bescheidenheit, seine Zuneigung und die ständigen Kämpfe mit seiner prekären finanziellen Situation.

Warwara Alexejewna Dobrosselow, die andere Hauptfigur, ist eine junge Frau, die in ähnlich prekären Verhältnissen lebt. Ihre Korrespondenz mit Makar zeigt ihre Sorge um ihn und ihre eigenen Versuche, Würde in Armut zu bewahren.

Diese Charaktere repräsentieren die „armen Leute“ Sankt Petersburgs, durch deren Augen Dostojewski die sozialen Ungerechtigkeiten und das menschliche Leid seiner Zeit darstellt.

Ihre Beziehung, geprägt von gegenseitigem Mitgefühl und Unterstützung, steht im Mittelpunkt des Romans und bietet einen tiefen Einblick in das menschliche Herz und die Fähigkeit zur Empathie auch unter den härtesten Lebensbedingungen.

Literarische Epoche und historischer Hintergrund

„Arme Leute“ wurde 1846 veröffentlicht und markiert das literarische Debüt von Fjodor Dostojewski, in einer Zeit, als sich Russland in einer Periode tiefgreifender sozialer und politischer Veränderungen befand.

Der Roman spiegelt die sozialen Spannungen des 19. Jahrhunderts in Russland wider, insbesondere die wachsende Kluft zwischen den sozialen Klassen und die Lebensbedingungen der armen städtischen Bevölkerung.

In dieser Epoche begannen russische Intellektuelle und Schriftsteller, sich intensiv mit Fragen der sozialen Gerechtigkeit, der Moral und der Rolle des Individuums in der Gesellschaft auseinanderzusetzen, Themen, die im Zentrum von Dostojewskis gesamtem Werk stehen.

„Arme Leute“ wird oft als ein sozialer Roman betrachtet, der die Aufmerksamkeit auf das Schicksal der weniger privilegierten Schichten der russischen Gesellschaft lenkt und Dostojewskis lebenslange Beschäftigung mit den moralischen Dilemmata und der spirituellen Suche des Menschen einführt.

Fragen und Antworten

Um was geht es in „Arme Leute“?

„Arme Leute“ ist ein Briefroman, der die Geschichte von Makar Dewuschkin und Warwara Dobrosselow erzählt, zwei verarmten Verwandten, die in Sankt Petersburg leben. Ihre Briefe offenbaren die täglichen Kämpfe und die soziale Ungerechtigkeit, mit denen sie konfrontiert sind, sowie ihre gegenseitige Zuneigung und Unterstützung inmitten von Armut.

Welche Themen werden in „Arme Leute“ behandelt?

Der Roman behandelt Themen wie Armut, soziale Ungerechtigkeit, menschliche Würde, Liebe und die Suche nach Glück. Er bietet auch eine Kritik an der gesellschaftlichen Ordnung und den sozialen Bedingungen im Russland des 19. Jahrhunderts.

Wie ist „Arme Leute“ strukturiert?

„Arme Leute“ ist als Briefwechsel zwischen den Hauptfiguren Makar und Warwara strukturiert. Diese Form ermöglicht einen tiefen Einblick in ihre Gedanken, Gefühle und die Herausforderungen, denen sie sich gegenübersehen.

Welche Bedeutung hat der Roman für Dostojewskis Werk?

„Arme Leute“ markierte den Beginn von Dostojewskis literarischer Karriere und legte den Grundstein für seine späteren Werke, in denen er weiterhin die menschliche Psyche und soziale Fragen erforschte. Der Roman etablierte Dostojewski als einen wichtigen sozialkritischen Stimme in der russischen Literatur.

Wie wurde „Arme Leute“ von der Kritik aufgenommen?

Bei seiner Veröffentlichung wurde „Arme Leute“ von der Kritik positiv aufgenommen und brachte Dostojewski Lob für seine einfühlsame Darstellung der unteren Gesellschaftsschichten und sein tiefes psychologisches Verständnis ein. Der Roman wurde als realistische und mitfühlende Darstellung des Lebens armer Menschen in Russland gefeiert.

Welchen Einfluss hatte „Arme Leute“ auf die Literatur?

„Arme Leute“ hatte einen bedeutenden Einfluss auf die russische und internationale Literatur, indem es das Bewusstsein für soziale Ungerechtigkeit schärfte und die literarische Darstellung der Armen und ihrer Lebensbedingungen beeinflusste. Der Roman trug dazu bei, das Genre des sozialen Romans in Russland zu etablieren.

Warum sollte man „Arme Leute“ lesen?

„Arme Leute“ bietet nicht nur einen Einblick in die frühe Schaffensperiode eines der größten Schriftsteller Russlands, sondern berührt auch durch seine zeitlose Thematik von Mitgefühl, menschlicher Resilienz und der Suche nach Gerechtigkeit. Es ist ein Werk, das zum Nachdenken anregt und tiefes Mitgefühl für die menschliche Kondition weckt.

Buchausgabe

Fjodor Dostojewski.
Arme Leute.
Hier in der vielgelesenen Übersetzung von Arnold Wasserbauer.
Erstdruck dieser Übersetzung: Büchergilde Gutenberg, Wien/Hamburg/Zürich 1929.
Erstdruck des russischen Originals in der Zeitschrift Peterburgski Sbornik, St. Petersburg 1846.

Vollständige Neuausgabe, LIWI Verlag, Göttingen 2019.
LIWI Literatur- und Wissenschaftsverlag

ISBN: 3965421697
EAN: 9783965421691
Paperback.
116 Seiten
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Verfasst von Thomas Löding, LIWI Blog, zuletzt aktualisiert am 25. März 2024