Die Legende vom heiligen Trinker
„Mit der Sicherheit eines Menschen, der Geld in seiner Tasche weiß, bestellte er einen Pernod, und er trank ihn auch mit der Sicherheit eines Menschen, der schon viele in seinem Leben getrunken hatte. Er trank noch einen zweiten und einen dritten, und er schüttete immer weniger Wasser in sein Glas nach. Und als gar der vierte kam, wußte er nicht mehr, ob er zwei, fünf oder sechs Gläser getrunken hatte. Auch erinnerte er sich nicht mehr, weshalb er in dieses Café und an diesen Ort geraten sei. Er wußte lediglich noch, daß er hier einer Pflicht, einer Ehrenpflicht, zu gehorchen hatte, und er zahlte, erhob sich, ging, immerhin noch sicheren Schrittes, zur Tür hinaus, erblickte die Kapelle schräg links gegenüber und wußte sofort wiederum, wo, warum und wozu er sich hier befinde.“
Das Wichtigste in Kürze
- Autor: Joseph Roth
- Veröffentlichung: 1939, posthum
- Genre: Erzählung
- Setting: Paris in den 1930er Jahren
- Hauptfigur: Andreas Kartak, ein obdachloser Alkoholiker
- Handlung:
- Andreas erhält von einem Fremden unter der Seine-Brücke 200 Francs mit der Bitte, das Geld der Heiligen Thérèse von Lisieux zurückzuzahlen.
- Trotz guter Vorsätze gibt Andreas das Geld für Alkohol aus.
- Er erhält mehrfach unerwartet Geld, verspricht jedes Mal, die Schuld zu begleichen, scheitert aber stets an seinen Schwächen.
- Themen:
- Gnade und Vergebung
- Zufall und Schicksal
- Das Ringen mit persönlichen Schwächen
- Die Hoffnung auf Erlösung
- Symbolik:
- Die wiederholten Gaben symbolisieren Gnade und die Chance auf Neubeginn.
- Die Brücke steht für Übergänge und möglicherweise für eine Verbindung zwischen dem Irdischen und dem Göttlichen.
- Stil:
- Klar und prägnant, mit einem Hauch von Melancholie und Ironie.
- Die Erzählung ist durchzogen von einer tiefen Menschlichkeit und Verständnis für die Figur.
- Bedeutung:
- Gilt als eines von Roths persönlichsten Werken, reflektiert möglicherweise seine eigenen Kämpfe mit Alkoholismus.
- Zeigt Roths Meisterschaft in der Darstellung komplexer menschlicher Emotionen und Zustände auf eindringliche Weise.
„Die Legende vom heiligen Trinker“ – Zusammenfassung / Inhaltsangabe
Eine unerwartete Begegnung
Andreas Kartak, ein obdachloser Alkoholiker in Paris, trifft eines Abends unter einer Seine-Brücke auf einen wohlhabenden Fremden. Dieser gibt ihm 200 Francs mit der Bitte, das Geld später der Heiligen Thérèse von Lisieux als Dank zurückzuzahlen. Andreas, obwohl überrascht und skeptisch, nimmt das Geld an und verspricht, die Schuld zu begleichen.
Der Zyklus der Versprechen
Trotz seiner ehrlichen Absicht, das Versprechen zu erfüllen, gibt Andreas das Geld für Alkohol aus. Kurz darauf erhält er unerwartet weitere Geldbeträge, die ihm wiederum ermöglichen, seine Bedürfnisse zu befriedigen, ohne seine Schuld bei der Heiligen Thérèse zu begleichen. Bei jeder Gelegenheit erneuert er sein Versprechen, findet aber stets Gründe, es nicht einzuhalten.
Begegnungen und Wiederholungen
Andreas erlebt eine Reihe von Begegnungen und Zufällen, die ihn finanziell immer wieder auffangen, sodass er weiterhin dem Alkohol frönen kann, ohne seine Schuld zurückzuzahlen. Jedes Mal, wenn er in der Lage wäre, seine Versprechen einzulösen, führt ihn ein neuer Zufall oder eine neue Begegnung davon ab.
Der Weg zur Erlösung
Schließlich, nach mehreren Tagen, in denen Glück und Alkohol seine Weggefährten sind, fühlt sich Andreas bereit, seine Schuld zu begleichen. Er macht sich auf den Weg zur Kirche, um das Geld der Heiligen Thérèse von Lisieux zurückzuzahlen, im festen Glauben an seine Erlösung.
Der Abschluss der Legende
Die Erzählung endet mit Andreas‘ Tod, kurz nachdem er den Entschluss gefasst hat, seine Schuld bei der Heiligen zu begleichen. Sein Tod erscheint als eine Art vollendete Erlösung, ein letzter Akt der Gnade, der ihm trotz seines Scheiterns, das Versprechen zu erfüllen, zuteilwird. „Die Legende vom heiligen Trinker“ ist somit nicht nur eine Geschichte über Schwäche und Versagen, sondern auch über Hoffnung, Gnade und die Möglichkeit der Erlösung.
„Die Legende vom heiligen Trinker“ – Charakterisierung der Personen
Andreas Kartak
Andreas Kartak, die zentrale Figur der Erzählung, ist ein obdachloser Alkoholiker mit einem guten Herzen. Trotz seiner Schwächen und seines Lasterhaften Lebensstils ist er von einer naiven Ehrlichkeit und einer tiefen Sehnsucht nach Erlösung geprägt. Andreas ist ein Mensch, der in seiner Einfachheit und seinem Scheitern eine universelle Menschlichkeit verkörpert.
Der wohlhabende Fremde
Der wohlhabende Fremde, der Andreas die 200 Francs gibt, bleibt anonym und symbolisch. Er agiert als eine Art Schicksalsbote, der durch seine Tat die Handlung in Gang setzt. Seine Rolle ist es, Andreas eine Chance zur Erlösung zu bieten und gleichzeitig als Test seiner moralischen Integrität zu fungieren.
Weitere Figuren
Während der Erzählung trifft Andreas auf verschiedene Personen, die ihm entweder finanziell unter die Arme greifen oder ihn durch ihre Anwesenheit an seine Versprechen erinnern. Diese Figuren dienen als Spiegel für Andreas‘ innere Kämpfe und als Katalysatoren für seine Versuche, seine Schuld zu begleichen.
„Die Legende vom heiligen Trinker“ – Analyse von Aufbau und Sprache
Aufbau der Erzählung
„Die Legende vom heiligen Trinker“ ist in einer einfachen, fast märchenhaften Struktur gehalten, die durch Wiederholungen und Zyklen von Versprechen und Scheitern geprägt ist. Diese Struktur unterstreicht das Thema der menschlichen Schwäche und der immer wiederkehrenden Hoffnung auf Erlösung. Der zyklische Aufbau spiegelt die Unausweichlichkeit von Andreas‘ Schicksal wider.
Sprachstil
Joseph Roth verwendet eine klare und prägnante Sprache, die die Geschichte direkt und ohne unnötige Verzierungen erzählt. Die Einfachheit des Stils verstärkt die Wirkung der moralischen und existenziellen Themen der Erzählung. Roths Sprache ist durchdrungen von einer tiefen Melancholie und einem feinen Sinn für Ironie, was der Erzählung eine besondere Tiefe verleiht.
Symbolik
Die Erzählung ist reich an Symbolik, beginnend mit dem Akt des Gebens und Empfangens des Geldes, der für die Möglichkeit der Gnade und der Erlösung steht. Die wiederholten finanziellen Zuflüsse symbolisieren die ständigen Chancen zur Besserung, während Andreas‘ Unfähigkeit, seine Versprechen zu halten, die menschliche Schwäche und die Schwierigkeit der moralischen Reinheit darstellt.
Erzählperspektive
Roth wählt eine allwissende Erzählperspektive, die es ihm ermöglicht, tief in die Gedanken und Gefühle von Andreas einzudringen und gleichzeitig eine gewisse Distanz zu wahren. Diese Perspektive erlaubt es dem Leser, ein umfassendes Verständnis für die Komplexität der menschlichen Natur zu entwickeln und die Geschichte als Gleichnis über die menschliche Existenz zu betrachten.
„Die Legende vom heiligen Trinker“ – Epoche
Zwischenkriegszeit und Exil
„Die Legende vom heiligen Trinker“ wurde gegen Ende von Joseph Roths Leben geschrieben und posthum veröffentlicht. Die Erzählung entstand vor dem Hintergrund der Zwischenkriegszeit und Roths eigenem Leben im Exil, geprägt von persönlichen Kämpfen, insbesondere seinem Ringen mit dem Alkoholismus. Diese persönlichen und zeitgeschichtlichen Hintergründe fließen in die Thematik und Stimmung der Erzählung ein.
Literarische Moderne
Roths Werk ist der literarischen Moderne zuzuordnen, einer Epoche, die durch eine tiefgehende Auseinandersetzung mit den Brüchen und der Entfremdung der modernen Welt gekennzeichnet ist. „Die Legende vom heiligen Trinker“ reflektiert diese Themen durch die persönliche Geschichte von Andreas Kartak und seinen Versuchen, Vergebung und Erlösung zu finden.
Reflexion der gesellschaftlichen Zustände
Obwohl die Erzählung sich auf die persönliche Ebene konzentriert, spiegelt sie auch die gesellschaftlichen Zustände der Zeit wider. Die Figur des obdachlosen Trinkers steht symbolisch für die verlorenen Existenzen der Zwischenkriegszeit, die sich in einer Welt ohne festen Halt wiederfinden.
„Die Legende vom heiligen Trinker“ – Interpretation
Gnade und menschliche Schwäche
Die zentrale Botschaft der Erzählung kreist um das Thema der Gnade und der menschlichen Schwäche. Andreas Kartak, der trotz mehrfacher Versuche und guter Vorsätze scheitert, seine Schuld zurückzuzahlen, verkörpert die Schwierigkeit, moralischen Idealen in einer unvollkommenen Welt gerecht zu werden.
Zufall und Schicksal
Die wiederholten, zufälligen finanziellen Zuwendungen, die Andreas erhält, werfen Fragen nach der Rolle von Zufall und Schicksal im Leben auf. Roths Erzählung lässt offen, ob diese Ereignisse als göttliche Interventionen oder als ironische Zufälle zu deuten sind, die Andreas‘ Unfähigkeit, sich zu ändern, unterstreichen.
Erlösung
Die abschließende Erlösung von Andreas durch den Tod kann als ultimative Befreiung von den irdischen Fesseln und als Erfüllung seiner Sehnsucht nach Reinheit und Gnade interpretiert werden. Roths Geschichte lässt sich somit als eine Reflexion über die Möglichkeit der Erlösung lesen, selbst für die am tiefsten gefallenen Seelen.
Spiegelung von Roths eigenem Leben
Die Themen von Alkoholismus, Obdachlosigkeit und der Suche nach Erlösung spiegeln Aspekte von Joseph Roths eigenem Leben wider. „Die Legende vom heiligen Trinker“ kann daher auch als eine persönliche Auseinandersetzung des Autors mit seinen eigenen Dämonen und seiner Sehnsucht nach Vergebung betrachtet werden.
„Die Legende vom heiligen Trinker“ ist somit mehr als nur die Geschichte eines Trinkers und seiner Versäumnisse; es ist eine tiefgreifende Erkundung der menschlichen Natur, der Möglichkeiten der Gnade und der Suche nach Erlösung in einer komplexen und oft unerbittlichen Welt.
Über den Autor
Lebensweg Joseph Roths
Joseph Roth (1894-1939) war ein österreichischer Schriftsteller und Journalist, dessen Werk von den politischen Umbrüchen und gesellschaftlichen Veränderungen seiner Zeit zutiefst geprägt wurde. Geboren in Galizien, erlebte Roth den Untergang der österreichisch-ungarischen Monarchie, die Wirren des Ersten Weltkriegs und das Aufkommen des Nationalsozialismus, was ihn schließlich ins Exil trieb.
Literarisches Schaffen
Roth gilt als einer der bedeutendsten Schriftsteller der Weimarer Republik und der literarischen Moderne. Sein umfangreiches Werk umfasst Romane, Erzählungen, Essays und journalistische Arbeiten, in denen er sich immer wieder mit Themen wie Identität, Heimatlosigkeit und dem Verlust von Werten auseinandersetzt. Werke wie „Radetzkymarsch“ und „Die Kapuzinergruft“ zählen zu den Klassikern der deutschsprachigen Literatur.
Persönliches
Roths Leben war von persönlichen Tragödien und einem zunehmenden Alkoholproblem gezeichnet, was seinen Werken oft eine melancholische und nachdenkliche Note verleiht. „Die Legende vom heiligen Trinker“ spiegelt in vielerlei Hinsicht Roths eigene Auseinandersetzung mit diesen Themen wider und gilt als eines seiner persönlichsten Werke.
Häufige Fragen
Was vermittelt „Die Legende vom heiligen Trinker“?
Die Erzählung vermittelt Themen der Gnade, Erlösung und des steten Kampfes mit persönlichen Schwächen. Sie beleuchtet die menschliche Neigung zu Scheitern und die gleichzeitige Möglichkeit, durch göttliche oder schicksalhafte Fügung Vergebung zu finden.
Ist „Die Legende vom heiligen Trinker“ autobiografisch?
Während „Die Legende vom heiligen Trinker“ nicht direkt autobiografisch ist, reflektieren die Themen und Motive der Erzählung zweifellos Roths eigene Lebenserfahrungen und seinen Kampf mit dem Alkoholismus. Die Geschichte kann als metaphorische Darstellung seiner eigenen Suche nach Sinn und Erlösung gesehen werden.
Wie endet die Geschichte?
Die Geschichte endet mit dem Tod des Protagonisten, Andreas Kartak, der als eine Art Erlösung interpretiert werden kann. Sein Tod erscheint als Befreiung von den weltlichen Bindungen und als Erfüllung seiner Sehnsucht nach einer reinen, schuldfreien Existenz.
Warum wurde die Erzählung posthum veröffentlicht?
Joseph Roth starb im Mai 1939, und „Die Legende vom heiligen Trinker“ wurde kurz nach seinem Tod veröffentlicht. Die späte Veröffentlichung unterstreicht den Wert der Erzählung als Teil von Roths literarischem Vermächtnis und als Abschluss seines Lebenswerks.
„Die Legende vom heiligen Trinker“ bleibt ein zeitloses Werk, das durch seine Einfachheit, seine tiefgründigen Themen und die Meisterschaft seines Autors besticht. Es lädt Leser ein, über die Bedeutung von Schuld, Vergebung und die Möglichkeiten der Erlösung in unserem eigenen Leben nachzudenken.
Literatur und Links
- Lothar Pikulik: Joseph Roths Traum von Wiedergeburt und Tod. Über die „Legende vom heiligen Trinker“. In: Euphorion, 83 (1989) S. 214–225.
- Marcel Reich-Ranicki: Der Romancier Joseph Roth. S. 261–268 in Michael Kessler (Hrsg.), Fritz Hackert (Hrsg.): Joseph Roth: Interpretation – Kritik – Rezeption. Akten des internationalen, interdisziplinären Symposions 1989, Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Stauffenburg Verlag Brigitte Narr, Tübingen 1990
- Seite „Die Legende vom heiligen Trinker“. In: Wikipedia – Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 17. Juli 2022, 21:24 UTC. URL: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Die_Legende_vom_heiligen_Trinker&oldid=224583104 (Abgerufen: 27. März 2024)
Buchausgabe
Dieses Buch enthält die Novelle „Die Legende vom heiligen Trinker“ von Joseph Roth.
Erstdruck: Verlag Allert de Lange, Amsterdam 1939.
Vollständige Neuausgabe, LIWI Verlag, Göttingen 2019.
LIWI Literatur- und Wissenschaftsverlag
EAN: 9783965421790
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Verfasst von Thomas Löding, LIWI Blog, zuletzt aktualisiert am 27. März 2024
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