Die Flucht ohne Ende
„Er hatte keinen bestimmten Plan, der Weg lag unsicher vor ihm, lauter Windungen. Er wußte, daß es lange dauern würde. Er hatte nur den einen Vorsatz: weder den weißen noch den roten Truppen nahe zu kommen und sich um die Revolution nicht zu kümmern.“
Zitat aus: Joseph Roth: Die Flucht ohne Ende. Ein Bericht.
Die Flucht ohne Ende – Übersicht: Das Wichtigste in Kürze
- Autor: Joseph Roth
- Gattung: Roman
- Veröffentlichung: 1927
- Epoche: Literarische Moderne (wird gelegentlich auch der Neuen Sachlichkeit zugeordnet)
- Wichtige Figuren: Franz Tunda, Irene Hartmann, Natascha Alexandrowna, Alja
- Inhalt in einem Satz: Ein österreichischer Oberleutnant, Franz Tunda, irrt nach seiner Flucht aus russischer Gefangenschaft durch die Wirren des Ersten Weltkriegs und findet weder in Wien noch in Paris eine neue Heimat.
Joseph Roth – Porträt im Video
Die Flucht ohne Ende – Zusammenfassung
Die Geschichte beginnt mit Franz Tunda, einem Oberleutnant der österreichischen Armee, der aus russischer Gefangenschaft flieht. Sein ursprüngliches Ziel ist es, nach Wien zurückzukehren, um seine Braut, Fräulein Irene Hartmann, wiederzufinden. Doch die Reise nach Hause gestaltet sich schwieriger und länger als erwartet.
Verstrickungen im Bürgerkrieg
Auf dem Weg durch die Sowjetunion wird Tunda in die Wirren des russischen Bürgerkriegs hineingezogen. Er gerät zunächst in die Hände der Weißen und später bei den Roten, wo er sich in seine Vorgesetzte, Natascha Alexandrowna, verliebt und selbst zum Revolutionär wird.
Flucht nach Westen
Trotz der Verwicklungen und seiner neuen Liebe entscheidet sich Tunda, weiter nach Wien zu streben. Doch auf dem Weg dorthin erfährt er von der Heirat und dem neuen Leben seiner ehemaligen Braut in Paris. Enttäuscht und ziellos erreicht er Wien, wo er auf wenig Unterstützung stößt und schließlich nach Paris weiterzieht.
Das Leben in Paris
In Paris angekommen, trifft Tunda auf Frau G., eine Bekanntschaft aus seiner Zeit in Baku. Trotz kurzzeitiger Ablenkungen durch seine Begegnungen und die illusionäre Hoffnung, Irene wiederzusehen, bleibt Tunda ein Fremder in der Stadt. Die Entfremdung zwischen ihm und seiner Umgebung verschärft sich.
Rückkehr nach Osten?
Am Ende des Romans erhält Tunda eine Nachricht aus Sibirien, dass Alja, seine Ehefrau aus der Zeit in Baku, auf ihn wartet. Der Roman schließt mit Tundas Unentschlossenheit, ob er zu Alja zurückkehren oder sein zielloses Dasein in Europa fortsetzen soll.
Die Flucht ohne Ende – Figuren
- Franz Tunda: Ehemaliger Oberleutnant der österreichischen Armee, dessen Leben durch die Flucht aus russischer Gefangenschaft und die darauf folgenden Jahre des Wanderns und der Ziellosigkeit geprägt ist. Er sucht nach Sinn und Identität in einem nachkriegsgezeichneten Europa.
- Irene Hartmann: Die ehemalige Braut von Franz Tunda, die ihn in Wien erwartet hatte, aber letztendlich in Paris ein neues Leben beginnt. Ihre veränderten Lebensumstände symbolisieren für Tunda den unwiederbringlichen Verlust der Vergangenheit.
- Natascha Alexandrowna: Eine charismatische und starke Frau, die Tunda während seiner Zeit bei den Roten im russischen Bürgerkrieg trifft. Ihre Beziehung zu Tunda spiegelt seine Verstrickung in die politischen Umwälzungen der Zeit wider.
- Alja: Eine weitere bedeutende weibliche Figur in Tundas Leben, die er in Grusinien trifft und heiratet. Ihre Präsenz im Roman verdeutlicht Tundas anhaltende Verbindung zu den Orten und Menschen seiner Flucht.
- Frau G.: Eine Mitglied einer französischen Delegation, mit der Tunda in Baku interagiert. Sie spielt eine kleine, aber bedeutende Rolle in seinem Leben in Paris und symbolisiert die flüchtigen und oberflächlichen Beziehungen, die Tunda in seiner rastlosen Existenz eingeht.
- Baranowicz: Ein Pole, der Tunda während seiner Flucht Unterschlupf gewährt. Seine Rolle im Roman ist gering, aber seine spätere Nachricht an Tunda, dass Alja auf ihn warte, bietet dem Protagonisten eine mögliche Rückkehr und damit eine Chance auf Stabilität und Heimat.
Die Flucht ohne Ende – Aufbau
„Die Flucht ohne Ende“ ist in einer linearen Erzählstruktur aufgebaut, die die Lebensreise von Franz Tunda chronologisch verfolgt. Der Roman beginnt mit seiner Flucht aus russischer Gefangenschaft und folgt seinen Bewegungen durch verschiedene Regionen und Begegnungen bis hin zu seiner unentschlossenen Situation am Ende des Romans.
Die einzelnen Episoden sind miteinander verbunden durch Tundas beständige Suche nach Identität und Zugehörigkeit, was dem Roman eine kohärente Struktur verleiht. Jedes Kapitel trägt zur Entwicklung von Tundas Charakter und seinen inneren Konflikten bei, während es gleichzeitig die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen der Nachkriegszeit beleuchtet.
Die Flucht ohne Ende – Sprache & Stil
Joseph Roth ist bekannt für seinen präzisen und doch poetischen Schreibstil, der auch in „Die Flucht ohne Ende“ zum Tragen kommt. Roths Sprache ist klar und direkt, geprägt von einem starken Sinn für Detail und Atmosphäre. Dies ermöglicht es ihm, die Zerrissenheit und das emotionale Gewicht von Tundas Erfahrungen eindringlich darzustellen.
Der Roman nutzt eine Mischung aus beschreibender Erzählung und inneren Monologen, was die persönlichen Konflikte und philosophischen Überlegungen der Hauptfigur hervorhebt. Roths Stil zeichnet sich durch eine Melancholie aus, die zu den Themen des Verlusts und der Suche nach Sinn passt. Der gelegentliche Einsatz von Ironie und sarkastischem Humor fügt eine weitere Dimension hinzu und spiegelt die komplexe Sichtweise des Autors auf die Ereignisse seiner Zeit wider.
„Wie häßlich ist Geld, das man nicht hat!“
„In den Seelen mancher Menschen richtet die Trauer einen größeren Jubel an als die Freude“.
„Es dauert sehr lange, ehe die Menschen ihr Angesicht finden“.
„Er hatte keinen bestimmten Plan, der Weg lag unsicher vor ihm, lauter Windungen. Er wußte, daß es lange dauern würde. Er hatte nur den einen Vorsatz: weder den weißen noch den roten Truppen nahe zu kommen und sich um die Revolution nicht zu kümmern.“
Die Flucht ohne Ende – Interpretation
„Die Flucht ohne Ende“ von Joseph Roth kann als tiefgehende Untersuchung der Entwurzelung und der Suche nach Identität in der Nachkriegswelt interpretiert werden. Der Protagonist Franz Tunda ist ein Symbol für die verlorene Generation, die durch den Ersten Weltkrieg und seine Folgen entwurzelt wurde. Seine fortwährende Suche nach einem Platz in der Welt und die Unmöglichkeit, zu einem normalen Leben zurückzukehren, spiegeln die kollektiven Erfahrungen vieler Menschen in dieser Epoche wider.
Der Roman thematisiert auch die Unzulänglichkeiten und das Scheitern der politischen Systeme der Zeit, sowohl des zaristischen Russlands als auch des nachkriegsdeutschen und -österreichischen Staatsgefüges. Tundas wechselnde politische und persönliche Allianzen, insbesondere seine Beteiligung am russischen Bürgerkrieg und seine Beziehungen zu verschiedenen Frauen, verdeutlichen seine tiefgreifende Verwirrung und sein Bedürfnis nach Zugehörigkeit.
Roth nutzt Tundas Odyssee auch, um die Ironie und Tragik der menschlichen Bemühungen um Stabilität und Glück zu beleuchten. Trotz zahlreicher Neuanfänge und Veränderungen im Leben bleibt Tunda ein Gefangener seiner eigenen Unentschlossenheit und seiner Unfähigkeit, die Vergangenheit loszulassen. Diese permanente innere und äußere Flucht wird zum zentralen Leitmotiv des Romans.
Schließlich kann „Die Flucht ohne Ende“ als Kritik an der romantischen Vorstellung des Individuums als Meister seines Schicksals gelesen werden. Roth stellt diese Vorstellung infrage und zeigt stattdessen ein Bild des Menschen, der von historischen, sozialen und politischen Kräften überwältigt wird, die weit über seine Kontrolle hinausgehen. Tundas Leben illustriert die komplexe Verflechtung von individueller Handlung und struktureller Determination, was den Roman zu einem bedeutenden literarischen Kommentar über die menschliche Existenz in turbulenten Zeiten macht.
Die Flucht ohne Ende – Literarische Epoche
„Die Flucht ohne Ende“ von Joseph Roth wird oft der Moderne zugeordnet, insbesondere wegen seiner Thematik, seines Stils und seiner Betonung der subjektiven Erfahrung sowie der psychologischen Tiefe der Charaktere. Die Moderne zeichnet sich durch eine Abkehr von traditionellen Erzählstrukturen, eine Experimentierfreudigkeit in der Form und eine tiefgründige Auseinandersetzung mit den Unsicherheiten und Fragmentierungen der modernen Welt aus.
Die Flucht ohne Ende fällt zeitlich auch in die Periode der Neuen Sachlichkeit, welche in der Weimarer Republik als Reaktion auf den Expressionismus entstand und sich durch eine nüchterne, objektive und oft sozialkritische Darstellungsweise auszeichnet.
Im Vorwort schreibt Roth auch:
„Ich habe nichts erfunden, nichts komponiert. Es handelt sich nicht mehr darum, zu ‚dichten‘. Das wichtigste ist das Beobachtete.“
Dennoch zeigt Roth weniger die für die Neue Sachlichkeit typische dokumentarische Kälte und distanzierte Beobachtung. Stattdessen verwendet Roth eine narrative Technik, die tief in das innere Erleben seiner Figuren eintaucht und ihre emotionale und existenzielle Verwirrung nachzeichnet.
Daher lässt sich „Die Flucht ohne Ende“ nicht eindeutig nur einer literarischen Epoche zuordnen.
Die Flucht ohne Ende – Joseph Roth
Joseph Roth, geboren 1894 in Brody, Galizien, damals Teil der Österreich-Ungarischen Monarchie, war ein österreichischer Schriftsteller und Journalist jüdischer Herkunft. Roth ist bekannt für seine scharfsinnigen Beobachtungen der politischen Turbulenzen seiner Zeit und die poetische Darstellung der Existenzen am Rande der Gesellschaft. Sein Werk ist tief verwurzelt in den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs und dessen Auswirkungen auf die europäische Gesellschaft.
Entstehung von „Die Flucht ohne Ende“
„Die Flucht ohne Ende“ entstand 1927 während Roths Albanienreise und erschien im selben Jahr. Dieser Roman spiegelt Roths eigene Erfahrungen und Beobachtungen der Nachkriegszeit wider und wird oft als teilweise autobiografisch beschrieben. Roth, der selbst im Krieg diente, erlebte die darauffolgenden Umbrüche in Europa aus nächster Nähe und verarbeitete seine Eindrücke und Reflexionen über die verlorene Identität und Heimatlosigkeit in seinen literarischen Arbeiten.
Weitere bekannte Werke
Zu Roths bedeutendsten Werken gehört Radetzkymarsch, ein Roman, der das Schicksal einer Familie vor dem Hintergrund des Zerfalls der Österreich-Ungarischen Monarchie schildert. Ein weiteres herausragendes Werk ist Das falsche Gewicht, das die Geschichte eines korrupten Eichmeisters erzählt, sowie Hiob, das die Leiden einer jüdischen Familie aus der Sowjetunion thematisiert.
Literarische Einflüsse
Roth wurde stark von den literarischen Strömungen seiner Zeit beeinflusst, insbesondere vom Expressionismus und von der Neuen Sachlichkeit, obwohl sein Stil persönlicher und weniger nüchtern als der typische Stil der Neuen Sachlichkeit war. Seine präzise, aber fließende Prosa und sein tiefes Mitgefühl für seine Charaktere lassen auch Einflüsse der klassischen russischen Literatur, insbesondere von Autoren wie Fjodor Dostojewski, erkennen.
In seinem Schreiben verband Roth literarische Schönheit mit sozialer Kritik und schuf damit ein bleibendes Porträt Europas in einer Zeit des Umbruchs.
Die Flucht ohne Ende – Die häufigsten Fragen
Was repräsentiert der Titel „Die Flucht ohne Ende“?
Der Titel symbolisiert die unendliche Suche des Protagonisten Franz Tunda nach einem Zuhause und einer Identität, die er nie wirklich findet. Es ist eine Metapher für seine beständige innere und äußere Flucht vor seiner Vergangenheit, seinen Verpflichtungen und letztendlich vor sich selbst.
Ist „Die Flucht ohne Ende“ eine autobiografische Geschichte?
Obwohl Joseph Roth eigene Erlebnisse und Gefühle in den Roman einfließen ließ, ist „Die Flucht ohne Ende“ nicht streng autobiografisch. Roth nutzt die Figur des Franz Tunda, um allgemeinere Themen wie Entwurzelung und Identitätsverlust zu erkunden, die viele Menschen in der Nachkriegszeit betrafen.
Wie spiegelt der Roman die gesellschaftlichen Zustände seiner Zeit wider?
„Die Flucht ohne Ende“ fängt die sozialen und politischen Unsicherheiten der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg ein. Roth zeigt, wie die Nachkriegsgesellschaft die Rückkehrer oft isoliert und wie die politischen Turbulenzen des russischen Bürgerkriegs das Leben der Menschen beeinflussen.
Warum endet der Roman ohne eine klare Lösung für Tunda?
Der offene Schluss des Romans verstärkt das zentrale Motiv der Unsicherheit und der unvollendeten Suche. Es zeigt, dass das Leben oft keine einfachen Antworten bietet und spiegelt die Realität vieler Menschen wider, die sich nach dem Krieg verloren fühlten.
Wie werden die verschiedenen Frauenfiguren im Roman dargestellt?
Die Frauen in „Die Flucht ohne Ende“ sind komplex und vielschichtig. Sie repräsentieren verschiedene Aspekte von Tundas Wünschen und der Gesellschaft, in der er sich bewegt. Jede Frau führt ihn zu unterschiedlichen Pfaden und Entscheidungen, was die komplizierte Natur menschlicher Beziehungen und Entscheidungen unterstreicht.
Welche Rolle spielt die Landschaft in der Erzählung?
Die wechselnden Landschaften, durch die Tunda reist – von der russischen Taiga über Wien bis nach Paris –, sind nicht nur Hintergrund, sondern spiegeln auch seine innere Verfassung wider. Sie verstärken die Atmosphäre der Isolation und Fremdheit, die Tundas Erfahrungen prägt.
Warum bleibt Franz Tunda ein Fremder in seiner eigenen Geschichte?
Tunda bleibt ein Fremder, weil er sich nie vollständig mit einer Gemeinschaft, Ideologie oder einem Ort identifizieren kann. Sein ständiges Unterwegssein und die Unfähigkeit, die Vergangenheit abzuschließen, verhindern, dass er irgendwo Wurzeln schlägt oder sich zugehörig fühlt.
Die Flucht ohne Ende – Buch
Joseph Roth: Die Flucht ohne Ende. Ein Bericht.
Erstdruck: Kurt Wolff Verlag, München 1927.
Vollständige Neuausgabe, LIWI Verlag, Göttingen 2019.
LIWI Literatur- und Wissenschaftsverlag
EAN: 9783965421820
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Verfasst von Thomas Löding, LIWI Blog, zuletzt aktualisiert am 01. Juli 2024