Die Welt von Gestern - Stefan Zweig

Hymnen an die Nacht

„Abwärts wend ich mich zu der heiligen, unaussprechlichen, geheimnisvollen Nacht. Fernab liegt die Welt – in eine tiefe Gruft versenkt – wüst und einsam ist ihre Stelle. In den Saiten der Brust weht tiefe Wehmut. In Tautropfen will ich hinuntersinken und mit der Asche mich vermischen.“

(Novalis, Hymnen an die Nacht)

Hymnen an die Nacht von Novalis ist ein lyrisches Werk, das aus sechs Hymnen besteht und sich mit den Themen Licht, Nacht, Tod und ewiges Leben auseinandersetzt. Diese Hymnen sind sowohl in ihrer Struktur als auch in ihrer Thematik eng miteinander verknüpft und reflektieren eine zunehmende spirituelle und emotionale Entwicklung des lyrischen Ichs.

1. Hymne

Die erste Hymne beginnt mit einem Lob des Lichts, das als lebensspendendes Prinzip und Symbol für das irdische Dasein eingeführt wird. Die Natur und die Menschen, die als Fremdlinge bezeichnet werden, atmen und leben durch das Licht. Jedoch deutet sich bereits eine Spannung an, die in der Gegenüberstellung zur Nacht mündet. Die Nacht, zunächst mit Einsamkeit und gescheiterten Hoffnungen assoziiert, wandelt sich im Verlauf der Hymne zu einem Ort der Geborgenheit und mystischen Erfahrung. Sie wird zur „Mutter Nacht“, die das lyrische Ich in eine tiefere, spirituelle Dimension einführt und ihm die Liebe in einem transzendenten Sinne eröffnet.

2. Hymne

In der zweiten Hymne erfolgt eine Ernüchterung. Das Erwachen aus der nächtlichen Vision führt zu einer Kritik am geschäftigen Tagewerk. Trotzdem wird die zeitlose Herrschaft der Nacht betont, die eine tiefere, ewige Wahrheit darstellt. Das lyrische Ich beschreibt verschiedene Fluchtwege aus der Realität des Tages, wie den Rausch des Weines oder die körperliche Liebe, um sich der Nacht wieder anzunähern.

3. Hymne

Die dritte Hymne berichtet von einem persönlichen, schmerzhaften Ereignis, das das lyrische Ich an das Grab seiner Geliebten führt. Dort erlebt es eine mystische Vision, die es geistig transformiert und zu einer tieferen Einsicht in die Ewigkeit und die Aufhebung von Raum und Zeit führt. Die Hymne schließt mit der Vision eines ewigen Bündnisses mit der Geliebten, symbolisch als „ewige Brautnacht“ dargestellt.

4. Hymne

In der vierten Hymne findet das lyrische Ich eine neue Balance zwischen Tag und Nacht. Es akzeptiert das Tagewerk, bleibt aber der Nacht in Liebe und Sehnsucht verbunden. Der letzte Vers deutet auf eine endgültige Rückkehr zur Nacht hin, in der das lyrische Ich eine ewige Teilhabe am höheren Sein erwartet.

5. Hymne

Diese Hymne ist die längste und behandelt die Geschichte der Menschheit aus einer religiösen Perspektive. Von der griechischen Antike über das Christentum bis zur Gegenwart spannt sich der Bogen. Es wird eine Entwicklung dargestellt, in der der Tod von einem unverstandenen Ende zu einem Tor ins ewige Leben umgedeutet wird, wobei Christus eine zentrale Mittlerrolle einnimmt.

6. Hymne

Die abschließende Hymne ist geprägt von einer tiefen Sehnsucht nach dem Tod, der nicht nur als Ende, sondern als Übergang zu einem ewigen Leben gesehen wird. Die Sprecher, nun im Plural, drücken eine kollektive Sehnsucht aus, die zugleich eine Rückkehr zur Nacht und damit zum Ursprung und zur wahren Heimat bedeutet.

Die Hymnen an die Nacht reflektieren Novalis‘ philosophische und romantische Vorstellungen, indem sie die traditionelle Wertschätzung des Lichts umkehren und die Nacht als Raum tiefster geistiger und emotionaler Erfahrungen aufwerten. Durch dieses Werk wird ein tiefgreifender Einblick in die romantische Sehnsucht nach Einheit und Transzendenz geboten.

Hymnen an die Nacht – Analyse

Autobiographische Elemente

Die Hymnen spiegeln bedeutende Ereignisse in Novalis‘ Leben wider, wie den Tod seiner Verlobten Sophie von Kühn, seine eigene Verlobung mit Julie von Charpentier, und seine Zeit an der Freiberger Bergakademie. Diese persönlichen Erfahrungen sind tief mit dem Text verwoben und beeinflussen die Darstellung von Themen wie Tod, Trauer und transzendenter Liebe.

Literarische und philosophische Quellen

Novalis schöpfte aus einer Vielzahl von Werken, die seinen Stil und seine Thematik beeinflussten:

  1. Edward Youngs „Nachtgedanken“ – Diese Gedichte, die das Nachdenken über Tod und Unsterblichkeit thematisieren, fanden starken Anklang bei Novalis, der ähnliche Motive in seine Hymnen integrierte.
  2. Shakespeares „Romeo und Julia“ – Die tragische Liebesgeschichte, die die Liebe über den Tod hinaus betont, resoniert in der tiefen Verbindung zwischen den Liebenden in den Hymnen.
  3. Jean Pauls „Unsichtbare Loge“ – Dieses Werk, das spirituelle und mystische Themen erkundet, beeinflusste Novalis’ Auffassung von der metaphysischen Bedeutung der Nacht und des Todes.
  4. Schillers „Die Götter Griechenlands“ – Dieses Gedicht, das den Verlust der göttlichen Präsenz in der modernen Welt beklagt, spiegelt sich in Novalis‘ Sehnsucht nach einer Wiederbelebung des Göttlichen durch die Romantik wider, insbesondere in der fünften Hymne.

Mystik und Pietismus

Die tief religiösen und mystischen Strömungen des Pietismus und der christlichen Mystik sind ebenfalls zentral für die „Hymnen an die Nacht“. Diese Strömungen betonen eine direkte, persönliche Verbindung zum Göttlichen, die Novalis durch die Figur der Nacht – als Mutter und Mittlerin – gestaltet.

Frühromantische Mythologie

Ein Schlüsselaspekt von Novalis‘ Werk ist die Schaffung einer frühromantischen Mythologie, die eine poetisierte Verbindung zwischen persönlicher Erfahrung und christlicher Überlieferung darstellt. Dies manifestiert sich in der Idee einer universellen Mittlerreligion, bei der Christus oder die verstorbene Geliebte als Mittler zwischen dem Menschen und dem Göttlichen fungieren. Diese Konzeption ist vergleichbar mit der Figur von Beatrice in Dantes „Göttlicher Komödie“, die als Vermittlerin zwischen dem Dichter und dem Göttlichen im Paradies auftritt.

Hymnen an die Nacht – Novalis

Friedrich von Hardenberg, bekannt als Novalis, ist eine zentrale Figur der deutschen Frühromantik. Sein Werk umfasst ein beeindruckendes Spektrum an Disziplinen, darunter Naturwissenschaften, Recht, Philosophie, Politik und Wirtschaft, was ihn zu einem der belesensten und vielseitigsten Denker seiner Zeit macht. Novalis‘ Arbeiten reflektieren eine tiefgreifende Verschmelzung von Geistes- und Naturwissenschaften mit der Poesie, was ihn von seinen Zeitgenossen abhebt.

Ästhetik und philosophische Ansichten

Novalis revolutionierte die Ästhetik durch seine innovative Produktionsästhetik, die sich von der traditionellen Nachahmung der Natur löst und stattdessen die Einbildungskraft und autonome Kreativität betont. Inspiriert von den Philosophen Kant und Fichte, sieht Novalis Kunst als die „Fähigkeit bestimmt und frei zu produzieren“. Diese Konzeption führt zu einer Auffassung von Kunst, die auf der Umkehrung der Sinne und einer originären Schöpfungskraft basiert, wobei der Künstler eine Welt erschafft, die unabhängig von der physischen Realität existiert. Novalis‘ Ideen beeinflussten nachhaltig spätere Denker und Künstler, darunter Coleridge und Baudelaire, und wirkten in die moderne Kunst und Literatur des 20. Jahrhunderts hinein.

Romantisierung der Welt

Das zentrale Motiv in Novalis‘ literarischem Schaffen ist die Romantisierung der Welt, eine Idee, die darauf abzielt, das Alltägliche mit einem höheren Sinn zu durchdringen und so die gesamte Welt zu poetisieren. Dieser Ansatz ist eng verknüpft mit der progressiven Universalpoesie, einer literarischen Methode, die darauf abzielt, Wissenschaft und Poesie zu verbinden und durch literarische Fragmente eine ständige Erneuerung und Erweiterung des Denkens zu fördern.

Triadenstruktur

In seinen Werken verwendet Novalis häufig eine Triadenstruktur, die der antiken griechischen Dichtung nachempfunden ist und aus den Teilen Strophe, Antistrophe und Epode besteht. Diese Struktur hilft, den Bildungsgedanken zu vermitteln, dass alles in einem stetigen Entwicklungsprozess steht und sich der Mensch einem idealen, harmonischen Zustand nähert.

Religiosität und Mystik

Im Bereich der Religiosität sucht Novalis nach einer neuen Form der Spiritualität, die sich von dogmatischen Zwängen löst und eine freiere, individuellere Verbindung zum Göttlichen ermöglicht. Beeinflusst von Schleiermacher und Spinozas Pantheismus, strebt Novalis nach einer Synthese von Christentum und universeller Religion, die durch seine mystische Interpretation des Christentums und die intensive Auseinandersetzung mit den Schriften des Mystikers Jakob Böhme geprägt ist.

Lyrische und prosaische Werke

Novalis‘ lyrisches Hauptwerk, die Hymnen an die Nacht, illustriert seine Fähigkeit, autobiographische Elemente mit universellen Themen wie Leben, Tod und transzendentaler Liebe zu verweben. Sein bekanntestes prosaisches Werk, Heinrich von Ofterdingen, enthält das Symbol der blauen Blume, das zu einem zentralen Motiv der Romantik avancierte. Der Roman spiegelt Novalis‘ Ideal einer poetischen Weltharmonie wider und kritisiert Goethes Wilhelm Meister als zu rational und lebensfern.

Rezeption

Novalis‘ Werke wurden und werden intensiv rezipiert und interpretiert, sowohl in literarischen als auch in philosophischen Kreisen. Sie haben das literarische Schaffen vieler nachfolgender Generationen beeinflusst und bleiben ein wesentlicher Bestandteil des romantischen Kanons und der Studien zur deutschen Literaturgeschichte.

Hymnen an die Nacht – Buch

Novalis.
Hymnen an die Nacht.
Erstdruck in: Athenäum, 3. Bd., 2. Stück, Berlin 1800.

Neuausgabe, Göttingen 2019.
LIWI Literatur- und Wissenschaftsverlag

Titel: Hymnen an die Nacht
Autor/en: Novalis

ISBN: 3965420860
EAN: 9783965420861

Paperback.  36 Seiten

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