Kanon der Weltliteratur, Krieg und Frieden, Leo Tolstoi, Russische Literatur, Russland

Die Kreutzersonate

„Was für ein furchtbares Ding, diese Sonate, und zwar gerade dieser Teil! Und überhaupt die Musik – was für eine entsetzliche Sache! Was tut sie? Und warum tut sie eben das, was sie tut? Es heißt, die Musik erhebe die Seele – Unsinn, Lüge! Sie wirkt überaus stark, gewiß – ich spreche von mir – doch von einer seelischen Erhebung ist bei ihrer Wirkung nicht im geringsten die Rede; sie wirkt auf die Seele weder erhebend noch niederdrückend, sondern erregend.“

(Zitat S. 63 in diesem Buch)

Tolstois große Erzählung „Die Kreutzersonate“, benannt nach Ludwig van Beethovens Violinsonate A-Dur op. 47, fasziniert seine Leserinnen und Leser bis heute. Das Manuskript mit dem Titel „Kreizerowa sonata“ wurde 1889 auf russisch fertigestellt. Aufgrund eines Verbots musste der Erstdruck im Ausland, und zwar in Deutschland erscheinen – in deutscher Übersetzung.

Die erste Übersetzung von 1890 gilt als sehr frei, die hier vorliegende Übersetzung von August Scholz trifft den Tonfall Tolstois weitaus besser und enthält zudem das Nachwort des Autors, welches nicht in allen Ausgaben enthalten ist. Hier als Taschenbuch-Neuausgabe, in gut lesbarer Schriftgröße, frisch aufgelegt.

„Die Kreutzersonate“ – Zusammenfassung 

Zugfahrt

Die Novelle beginnt mit einer Zugfahrt, auf der der Erzähler, ein nicht näher benannter Ich-Erzähler, auf Posdnyschew trifft.

Posdnyschew ist ein Mann mittleren Alters, der bereit ist, seine düstere Lebensgeschichte zu erzählen.

Die unglückliche Ehe

Posdnyschew erzählt von seiner Ehe, die zunächst von Leidenschaft geprägt war, aber schnell in Eifersucht und Missverständnissen mündete.

Er schildert, wie seine Sicht auf die Liebe und das Zusammenleben durch persönliche Enttäuschungen verdüstert wurde.

Der Wendepunkt: Die Kreutzersonate

Die Kreutzersonate von Beethoven spielt eine zentrale Rolle in Posdnyschews Erzählung.

Als seine Frau die Sonate zusammen mit einem befreundeten Geiger spielt, erreicht Posdnyschews Eifersucht ihren Höhepunkt.

Er interpretiert die emotionale Intensität der Musik als Beweis für eine Affäre zwischen seiner Frau und dem Geiger.

Der Mord

Im Affekt und getrieben von unaushaltbarer Eifersucht tötet Posdnyschew seine Frau.

Nach der Tat ist er von Schuldgefühlen und Reue geplagt, doch er rechtfertigt seine Tat mit der Verdorbenheit der menschlichen Natur und der Gesellschaft.

Nachklang und Reflexion

Im letzten Teil der Novelle reflektiert Posdnyschew über die Konsequenzen seiner Tat.

Er kritisiert die Institution der Ehe und die gesellschaftlichen Normen, die seiner Meinung nach zu seiner Tat geführt haben.

„Die Kreutzersonate“ Leo Tolstoi – Charakterisierung der Personen

Posdnyschew

Posdnyschew ist der Protagonist und Erzähler seiner eigenen Geschichte, durch die er seine dunklen und komplexen Emotionen offenbart.

Er wird als tief zerrissen und von Eifersucht geplagt dargestellt, was seine Sicht auf Liebe, Ehe und Moral tiefgreifend beeinflusst.

Posdnyschews Frau

Posdnyschews Frau bleibt namenlos, was ihre untergeordnete Rolle in der Ehe und die gesellschaftliche Sicht auf Frauen zur Zeit Tolstois unterstreicht.

Sie wird als talentierte Musikerin dargestellt, deren Leidenschaft zur Musik und insbesondere zur Kreutzersonate ihren Mann in den Wahnsinn treibt.

Der Geiger

Der Geiger ist ein Freund der Familie und musikalischer Partner von Posdnyschews Frau.

Er wird als Auslöser für Posdnyschews ultimative Eifersucht und Wahn präsentiert, obwohl er möglicherweise unschuldig an den unterstellten Affären ist.

„Die Kreutzersonate“ – Analyse von Aufbau und Sprache

Aufbau

Die Erzählung folgt einer Rahmenhandlung, in der die eigentliche Geschichte von Posdnyschew innerhalb einer Zugfahrt erzählt wird.

Dieser Aufbau ermöglicht eine intime und persönliche Erzählweise, die den Leser direkt in die Gedankenwelt des Protagonisten einführt.

Sprache

Tolstois Sprache in „Die Kreutzersonate“ ist prägnant und emotional geladen, was die Intensität von Posdnyschews Erfahrungen und Emotionen hervorhebt.

Die Nutzung musikalischer Begriffe und Metaphern verbindet die emotionale und thematische Tiefe des Werks mit der Struktur der Beethoven-Sonate, die dem Werk seinen Namen gibt.

„Die Kreutzersonate“ – Epoche

Realismus und moralische Fragen

„Die Kreutzersonate“ wurde in einer Zeit geschrieben, in der sich Tolstoi zunehmend mit ethischen und spirituellen Fragen beschäftigte, was typisch für den literarischen Realismus des späten 19. Jahrhunderts ist.

Das Werk reflektiert die gesellschaftlichen Konventionen, Ehemoral und persönliche Ethik, Themen, die für Tolstoi und die literarische Epoche des Realismus zentral sind.

Tolstois philosophische Phase

Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung befand sich Tolstoi in einer Phase, in der er sich von den traditionellen Narrativen der russischen Aristokratie distanzierte und sich stärker philosophischen und spirituellen Fragen zuwandte.

Diese Phase spiegelt sich in der intensiven Auseinandersetzung mit Moral, Gewalt und Liebe in „Die Kreutzersonate“ wider, die typisch für Tolstois spätere Werke ist.

„Die Kreutzersonate“ – Interpretation

Kritik an der Institution der Ehe

„Die Kreutzersonate“ kann als eine scharfe Kritik an der Institution der Ehe und der Rolle von Sexualität in der Gesellschaft interpretiert werden.

Tolstoi stellt die Ehe als eine Institution dar, die durch Eifersucht, Besitzansprüche und Missverständnisse gefährdet ist, was zu tragischen Konsequenzen führt.

Musik als metaphorisches Element

Die Kreutzersonate von Beethoven dient als leitmotivisches und metaphorisches Element, das die emotionale Verbindung zwischen den Charakteren sowie die Zerrissenheit und Leidenschaft in menschlichen Beziehungen symbolisiert.

Musik wird als eine Form der Kommunikation dargestellt, die sowohl verbinden als auch zerstören kann, und spiegelt die Komplexität von menschlichen Emotionen und Beziehungen wider.

Reflexion über die menschliche Natur

Die Novelle reflektiert tiefgehend über die menschliche Natur, insbesondere über die dunklen Seiten wie Eifersucht, Besitzgier und Gewalt.

Tolstoi nutzt die Erzählung, um die Frage aufzuwerfen, ob wahre spirituelle und moralische Reinheit in einer von materiellen und körperlichen Begierden geprägten Welt möglich ist.

Ähnlichkeiten mit „Anna Karenina“ und „Krieg und Frieden“:

  1. Themen der menschlichen Natur und Moral: Sowohl in „Die Kreutzersonate“ als auch in „Anna Karenina“ und „Krieg und Frieden“ erforscht Tolstoi die Komplexität menschlicher Emotionen, insbesondere im Kontext von Liebe und Beziehungen. Er stellt moralische Fragen, die die Leser dazu bringen, über Ethik und die Konsequenzen menschlichen Handelns nachzudenken.
  2. Gesellschaftskritik: In allen drei Werken übt Tolstoi Kritik an der russischen Aristokratie und den gesellschaftlichen Konventionen seiner Zeit. Er hinterfragt die Institution der Ehe und die Rolle von Frauen in der Gesellschaft, was besonders in „Anna Karenina“ und „Die Kreutzersonate“ deutlich wird.
  3. Psychologische Tiefe: Tolstoi ist bekannt für seine Fähigkeit, tief in die Psyche seiner Charaktere einzudringen. Sowohl in „Die Kreutzersonate“ als auch in seinen anderen großen Werken bietet er detaillierte psychologische Porträts, die die inneren Konflikte und Entwicklungen der Figuren beleuchten.

Unterschiede zu „Anna Karenina“ und „Krieg und Frieden“:

  1. Umfang und Struktur: „Die Kreutzersonate“ ist eine Novelle und somit deutlich kürzer als die epischen Romane „Anna Karenina“ und „Krieg und Frieden“. Ihre kompakte Form erlaubt eine fokussierte Exploration eines zentralen Themas, wohingegen die größeren Werke ein breites Spektrum an Charakteren, Handlungssträngen und Themen abdecken.
  2. Fokussierung auf ein zentrales Thema: Während „Krieg und Frieden“ und „Anna Karenina“ eine Vielzahl von Themen und gesellschaftlichen Fragen behandeln, konzentriert sich „Die Kreutzersonate“ hauptsächlich auf die Themen Eifersucht und die zerstörerischen Auswirkungen von Leidenschaft innerhalb der Ehe. Diese engere Fokussierung ermöglicht eine intensive Untersuchung der dunkleren Aspekte menschlicher Beziehungen.
  3. Persönliche Philosophie: „Die Kreutzersonate“ reflektiert stärker Tolstois persönliche philosophische Überzeugungen und spirituelle Krisen in den späteren Jahren seines Lebens. Im Gegensatz dazu bieten „Anna Karenina“ und „Krieg und Frieden“ ein breiteres Bild der russischen Gesellschaft und Geschichte, ohne sich so direkt auf die späteren ethischen und spirituellen Fragen zu konzentrieren, die Tolstoi beschäftigten.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass „Die Kreutzersonate“ die charakteristischen Merkmale von Tolstois Schreiben teilt, wie die Erkundung tiefgründiger moralischer Fragen und eine scharfe Gesellschaftskritik, sich jedoch durch ihren Umfang, Fokus und die direkte Auseinandersetzung mit Tolstois späteren philosophischen Überzeugungen von „Anna Karenina“ und „Krieg und Frieden“ unterscheidet.

Über den Autor Leo Tolstoi

Einer der größten Schriftsteller Russlands

Leo Tolstoi gilt als einer der bedeutendsten russischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts.

Sein umfangreiches Werk umfasst Romane, Kurzgeschichten, Essays und philosophische Schriften, die bis heute für ihre tiefe moralische und philosophische Ergründung geschätzt werden.

Lebenslange Suche nach Wahrheit

Tolstois Leben war geprägt von einer ständigen Suche nach ethischer und spiritueller Wahrheit, was sich in seinen späteren Werken, einschließlich „Die Kreutzersonate“, widerspiegelt.

Er hinterfragte konventionelle gesellschaftliche Normen und setzte sich kritisch mit Themen wie Gerechtigkeit, Religion und Gewaltlosigkeit auseinander.

Häufige Fragen

Warum wurde „Die Kreutzersonate“ so benannt?

Der Titel „Die Kreutzersonate“ bezieht sich auf die Sonate Nr. 9 A-Dur für Violine und Klavier von Ludwig van Beethoven, bekannt als Kreutzersonate.

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Dieses Musikstück spielt eine zentrale Rolle in der Novelle und symbolisiert die Leidenschaft und Eifersucht, die zum tragischen Höhepunkt der Geschichte führen.

Welche Themen behandelt die Novelle?

Die Novelle behandelt tiefgründige Themen wie Ehe, Eifersucht, Sexualmoral und die Suche nach spiritueller Reinheit.

Tolstoi nutzt die Geschichte, um die Komplexität menschlicher Emotionen und die Kritik an gesellschaftlichen Konventionen zu erforschen.

Warum ist „Die Kreutzersonate“ umstritten?

„Die Kreutzersonate“ war und ist aufgrund ihrer expliziten Auseinandersetzung mit Sexualität, Ehe und der Natur menschlicher Beziehungen umstritten.

Tolstois offene Kritik an der Institution der Ehe und seine Darstellung von Eifersucht und Gewalt haben zu heftigen Debatten und sogar zu Zensurmaßnahmen geführt.

Buchausgabe

Leo Tolstoi.
Die Kreutzersonate.
Durchgesehener Neusatz, der Text dieser Ausgabe inkl. des Nachworts folgt der Ausgabe in der Übersetzung von August Scholz, Akademischer Verlag Sebastian Löwenbuck, Berlin, 1922.
Erstdruck: Die Kreutzer-Sonate. Aus dem russischen Manuskript übersetzt, Verlag von A. Deubner, Berlin 1890.

Vollständige Neuausgabe, LIWI Verlag, Göttingen 2022.
LIWI Literatur- und Wissenschaftsverlag

Buch-ISBN: 9783965425675

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Verfasst von Thomas Löding, LIWI Blog, zuletzt aktualisiert am 27. März 2024