Charles Dickens - Doktor Marigold

Doktor Marigold

„Mein Vater ist zu seiner Zeit ein reizender Kerl im Geschäftszweig des fahrenden Handels gewesen, wie seine Worte vor dem Tod bewiesen haben. Aber ich bin noch tüchtiger als er. (…) Ich habe meine Sache studiert. Ich habe mich mit anderen öffentlichen Sprechern verglichen – Parlamentsmitgliedern, Volksrednern, Kanzelpredigern, Advokaten -,
und wo ich sie gut fand, habe ich ein Stückchen Phantasie von ihnen geborgt, und wo ich sie schlecht fand, habe ich sie in Ruhe gelassen.
Nun will ich euch aber was sagen. Ich bin entschlossen, in mein Grab zu steigen mit der Erklärung, daß von allen Berufen, denen in Großbritannien unrecht geschieht, die Hausierer am schlimmsten dran sind.“

Die wohl schönste Erzählung über einen fahrenden Händler in der Literaturgeschichte erschien erstmals in einer Sammlung der „Weinachtserzählungen“ von Charles Dickens.
Hier in der meisterhaften, mittlerweile als „klassisch“ geltenden Übersetzung von Carl Kolb/Julius Seybt.

Doktor Marigold – Zusammenfassung

Doktor Marigold (engl.: „Doctor Marigold’s Prescriptions“) ist eine berührende Kurzgeschichte von Charles Dickens, die erstmals 1865 veröffentlicht wurde. Sie erzählt die Geschichte von Doctor Marigold, einem fahrenden Straßenhändler, der seinen Namen von einem wohlbekannten Pferdearzt erhalten hat, der ihn bei seiner Geburt zur Welt brachte. Marigold ist kein echter Doktor, sondern nutzt den Titel als Teil seiner Verkaufsstrategie.

Die Geschichte beginnt mit der Beschreibung von Marigolds lebhaftem und charismatischem Charakter. Er ist ein geschickter Verkäufer, der seine Waren auf Märkten in ganz England anbietet. Trotz seines fröhlichen Auftretens und seiner geschickten Rhetorik ist sein Leben von Tragödien und Herausforderungen geprägt.

Familiäre Tragödien:

Marigolds Leben nimmt eine dunkle Wendung, als er von seiner unglücklichen Ehe erzählt. Seine Frau ist eine gewalttätige und bösartige Frau, die ihn und ihre gemeinsame Tochter, Sophie, misshandelt. Sophie ist das Licht in Marigolds Leben, aber sie stirbt tragischerweise im Kindesalter, was Marigold in tiefe Trauer stürzt. Diese Verluste prägen ihn stark und hinterlassen einen bleibenden Eindruck auf seine Persönlichkeit und sein Leben.

Die Begegnung mit Sophy:

Eines Tages trifft Marigold auf einem seiner Märkte ein stummes Waisenmädchen namens Sophy. Das Mädchen erinnert ihn an seine verstorbene Tochter Sophie. Er beschließt, Sophy zu adoptieren und ihr ein besseres Leben zu ermöglichen. Marigold zeigt großes Mitgefühl und Fürsorge für Sophy, und obwohl sie nicht sprechen kann, entwickeln sie eine tiefe und liebevolle Beziehung. Marigold lernt die Gebärdensprache, um mit Sophy zu kommunizieren, und die beiden finden Trost und Freude in ihrer neuen Familie.

Bildung und Liebe:

Marigold sorgt dafür, dass Sophy eine gute Ausbildung erhält. Sie entwickelt sich zu einer intelligenten und talentierten jungen Frau. Während ihrer Ausbildung verliebt sich Sophy in einen jungen Mann, den sie schließlich heiratet. Marigold, der in seinem Leben so viel Leid und Verlust erfahren hat, ist zutiefst glücklich, dass Sophy ihr Glück gefunden hat.

Das Erbe von Doctor Marigold:

Die Geschichte endet damit, dass Marigold älter wird und sich in den Ruhestand begibt. Er lebt in dem Wissen, dass er trotz aller Schwierigkeiten und Verluste ein sinnvolles und erfülltes Leben geführt hat. Die Liebe und das Glück, die er Sophy gegeben hat, sind sein größtes Vermächtnis. Die Geschichte schließt mit einem Gefühl der Hoffnung und Erfüllung, indem sie zeigt, dass selbst inmitten von Schmerz und Leid Liebe und Mitgefühl triumphieren können.

Themen und Stil:

„Doktor Marigold“ ist typisch für Dickens‘ Stil, der oft soziale Missstände und die Notwendigkeit von Mitgefühl und Menschlichkeit thematisiert. Die Geschichte ist reich an emotionaler Tiefe und zeigt Dickens‘ meisterhafte Fähigkeit, komplexe Charaktere zu schaffen, die sowohl menschliche Schwächen als auch Stärken zeigen. Die Erzählung ist durchzogen von einem tiefen Verständnis für die menschliche Natur und einer starken Botschaft der Hoffnung und Erneuerung.

Insgesamt ist „Doctor Marigold‘ eine bewegende Geschichte über Verlust, Liebe und die Kraft des Mitgefühls. Sie zeigt, wie ein Mann trotz aller Widrigkeiten ein Leben voller Bedeutung und Erfüllung finden kann.

Über den Autor Charles Dickens

Biografie:

Charles Dickens wurde am 7. Februar 1812 in Landport, Portsmouth, England, als zweitältestes von acht Kindern geboren. Sein Vater, John Dickens, war Angestellter in der Marine-Pay-Office und seine Mutter, Elizabeth Dickens, war Hausfrau. Die finanzielle Lage der Familie war instabil, und als Charles zwölf Jahre alt war, wurde sein Vater wegen Schulden in das Schuldgefängnis Marshalsea eingesperrt. Diese Erfahrung prägte Dickens tief und beeinflusste viele seiner späteren Werke, in denen Armut und soziale Ungerechtigkeit zentrale Themen sind.

Aufgrund der finanziellen Not der Familie musste Charles seine Schulbildung unterbrechen und in einer Schuhwichsfabrik arbeiten, um zum Familienunterhalt beizutragen. Diese Zeit hinterließ bei ihm bleibende Spuren und schuf ein tiefes Bewusstsein für die Härten des Lebens der Armen und Arbeiterklasse.

Karrierebeginn:

Dickens‘ literarische Karriere begann als Journalist. Er schrieb für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften und veröffentlichte 1836 seine erste Sammlung von Kurzgeschichten, „Sketches by Boz“. Im selben Jahr heiratete er Catherine Hogarth, mit der er zehn Kinder hatte.

Sein Durchbruch kam 1836-1837 mit der Veröffentlichung von „Die Pickwickier“ (The Pickwick Papers), einem humorvollen Roman, der ihn über Nacht berühmt machte. Dieser Erfolg ermöglichte es ihm, sich vollständig auf das Schreiben zu konzentrieren.

Literarisches Werk:

Dickens schrieb zahlreiche Romane, die heute als Klassiker der englischen Literatur gelten. Seine Werke zeichnen sich durch ihre komplexen Charaktere, sozialen Kommentar und lebendige Beschreibungen des viktorianischen Englands aus. Zu seinen bekanntesten Romanen gehören:

  1. Oliver Twist (1837-1839): Die Geschichte eines Waisenjungen, der in die kriminelle Unterwelt Londons gerät. Der Roman kritisiert scharf die Armut und das schlechte Behandlungssystem von Waisenhäusern und Armenhäusern.
  2. David Copperfield (1849-1850): Ein weitgehend autobiografischer Roman, der die Lebensgeschichte eines Jungen erzählt, der sich trotz zahlreicher Widrigkeiten seinen Weg in die Welt bahnt.
  3. A Tale of Two Cities (1859): Ein historischer Roman, der die Geschichte zweier Städte, London und Paris, während der Französischen Revolution erzählt. Der Roman ist bekannt für seine Eröffnungslinie „Es war die beste Zeit, es war die schlimmste Zeit…“ und seine packende Darstellung von Opfern und Erlösung.
  4. Great Expectations (1860-1861): Die Geschichte des Waisenjungen Pip, der durch eine unerwartete Erbschaft aus der Unterschicht in die Gesellschaft aufsteigt, nur um zu erkennen, dass wahres Glück und menschliche Werte nicht durch Reichtum bestimmt werden.
  5. Bleak House (1852-1853): Ein komplexer Roman, der die langsamen und oft korrupten Abläufe des englischen Rechtssystems kritisiert und eine Vielzahl von Charakteren und Handlungssträngen miteinander verwebt.

Soziale Kommentare und Philanthropie:

Dickens war nicht nur ein Schriftsteller, sondern auch ein engagierter Sozialreformer. Viele seiner Werke thematisieren die sozialen Missstände seiner Zeit, darunter Kinderarbeit, Armut, Bildung und das Justizsystem. Er nutzte seine Popularität, um auf diese Probleme aufmerksam zu machen und setzte sich aktiv für Reformen ein.

Er war auch an philanthropischen Aktivitäten beteiligt und half, Einrichtungen zu gründen, die obdachlosen und bedürftigen Menschen halfen. Dickens‘ eigene Erfahrungen in der Fabrik und mit der Armut seiner Familie verliehen seinen Schriften Authentizität und eine tiefe Empathie für die benachteiligten Schichten der Gesellschaft.

Späteres Leben und Tod:

In den letzten Jahren seines Lebens litt Dickens unter gesundheitlichen Problemen, die durch seine intensive Arbeit und ausgedehnten Lesereisen verschärft wurden. Er erlitt 1865 einen schweren Eisenbahnunfall, bei dem er zwar körperlich relativ unversehrt blieb, aber psychisch stark litt.

Charles Dickens starb am 9. Juni 1870 in seinem Haus in Gad’s Hill Place, Kent. Er hinterließ ein unvollendetes Werk, „Das Geheimnis des Edwin Drood“ (The Mystery of Edwin Drood). Dickens wurde in der Poets’ Corner der Westminster Abbey in London beigesetzt, ein Zeichen seiner herausragenden Stellung in der englischen Literatur.

Leseprobe:

Diese teuren Hausierer seifen das Volk schändlich ein, während wir billigen das niemals tun. Wir sagen den Leuten die Wahrheit ins Gesicht und verschmähen es, ihnen zu schmeicheln. Was Verwegenheit beim Anpreisen der Ware angeht, so sind wir die reinen Waisenkinder gegen die teuren Hausierer. In unserem Handel gilt es als Regel, daß man über eine Flinte besser schwadronieren kann als über jeden anderen Artikel, den wir aus dem Karren hervorholen, mit Ausnahme von einem Paar Brillengläser. Aber wenn ich einen Vortrag halte, was die Flinte vermag und was mit der Flinte schon alles geschossen worden ist, dann gehe ich doch nicht halb so weit wie die teuren Hausierer, wenn sie nicht über ihre Flinten, wohl aber über ihre Kanonen reden – ihre großen Kanonen, die ihre Drahtzieher sind. Außerdem bin ich ein selbständiger Geschäftsmann – ich werde von niemandem mit einem Auftrag auf den Markt geschickt, wie es bei denen der Fall ist. Und ferner wissen meine Flinten nichts von dem, was ich zu ihrem Lob sage, während ihre Kanonen es wissen, und die ganze Gesellschaft sollte sich in Grund und Boden schämen. Das sind einige meiner Gründe für die Behauptung, daß die Hausierer in Großbritannien schlecht behandelt werden; und deshalb gerate ich in Wut, wenn ich an die großen Leute denke, die glauben, sie dürften auf uns herabsehen.

Ich warb um meine Frau von dem Trittbrett des Karrens aus. So war es tatsächlich. Sie war ein junges Mädchen von Suffolk, und es geschah auf dem Marktplatz von Ipswich, dem Laden des Kornhändlers genau gegenüber. Ich hatte sie schon am Sonnabend zuvor an einem Fenster stehen sehen und hatte sie gleich hoch eingeschätzt. Sie gefiel mir, und ich sagte mir: »Falls sie noch nicht vergeben ist, will ich diese Partie nehmen.« Am nächsten Sonnabend stellte ich den Karren auf demselben Fleck auf. Ich war bester Laune, das Publikum lachte in einem fort, und die Sachen gingen ab wie geschmiert. Schließlich zog ich aus meiner Westentasche eine kleine, in Fließpapier eingewickelte Partie hervor und begann folgendermaßen, wobei ich zu dem Fenster, an dem sie stand, emporblickte:

»Nun hier, ihr blühenden Mädels von England, ist ein Artikel, der letzte Artikel vom heutigen Verkauf, den ich nur euch, ihr lieblichen Kinder von Suffolk, die ihr vor Schönheit überströmt, anbiete, und den ich keinem lebendigen Manne für tausend Pfund überlassen würde. Was mag das wohl sein? Ich will euch sagen, was es ist. Es ist aus gediegenem Gold, und es ist nicht zerbrochen, obwohl es in der Mitte ein Loch hat, und es ist stärker als jede Fessel, die je geschmiedet wurde, obgleich es schmäler ist als der dünnste Finger unter meinen zehn. Weshalb gerade zehn? Weil, als meine Eltern mir mein Vermögen vermachten, wie ich euch wahrheitsgemäß versichere, zwölf Laken, zwölf Handtücher, zwölf Tischdecken, zwölf Messer, zwölf Gabeln, zwölf Eßlöffel und zwölf Teelöffel da waren, aber bei meinen Fingern fehlten zwei am Dutzend, und ich habe sie niemals beschaffen können. Nun, was ist es sonst noch? Hört zu, ich will’s euch sagen. Es ist ein Reif aus massivem Gold, eingewickelt in ein silbernes Haarwickelpapier, das ich mit eigener Hand von den glänzenden Locken der unvergänglich schönen alten Dame in Threadneedle Street in der Londoner City Die Bank von Englandgenommen habe – ich würde das nicht behaupten, wenn ich euch nicht das Papier vorzeigen könnte, sonst würdet ihr es selbst von mir nicht glauben. Nun, was ist es sonst noch? Es ist eine Männerfalle und eine Handschelle, ein Schließeisen und eine Beinfessel, alles in Gold und alles in einem. Nun, was ist es sonst noch? Es ist ein Ehering. Nun will ich euch sagen, was ich damit machen werde. Ich werde diesen Artikel nicht für Geld anbieten, sondern ich will ihn derjenigen unter euch Schönen geben, die jetzt lachen wird. Bei dieser will ich morgen früh Punkt halb zehn mit dem Glockenschlag einen Besuch machen und mit ihr spazierengehen, um das Aufgebot zu bestellen.«

Sie lachte, und der Ring wurde ihr hinaufgereicht. Als ich am nächsten Morgen zu ihr komme, sagt sie:

»Du lieber Himmel! Da seid Ihr ja! Es kann Euch doch nicht Ernst gewesen sein?«

»Da bin ich«, sage ich, »und ich bin für immer der Eurige, und es ist mein heiliger Ernst.«

So wurden wir getraut, nachdem wir dreimal aufgeboten worden waren – was, nebenbei bemerkt, ganz unseren Geschäftsgebräuchen entspricht und wieder einmal zeigt, wie sehr diese Gebräuche die ganze Gesellschaft durchdringen.

Sie war kein böses Weib, aber sie hatte ein reizbares Temperament. Wenn ich diesen Artikel unter Preis hätte loswerden können, so hätte ich sie für kein anderes Weib in ganz England hergegeben. (…)

Doktor Marigold – Buch

Charles Dickens
Doktor Marigold
Erstdruck im englischsprachigen Orginal: Doctor Marigold’s prescriptions, Chapman and Hall, London 1865.
Übersetzung von Carl Kolb/Julius Seybt.
Vollständige Neuausgabe, LIWI Verlag, Göttingen 2019.
LIWI Literatur- und Wissenschaftsverlag

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