Charles Dickens - Doktor Marigold

Doktor Marigold

„Mein Vater ist zu seiner Zeit ein reizender Kerl im Geschäftszweig des fahrenden Handels gewesen, wie seine Worte vor dem Tod bewiesen haben. Aber ich bin noch tüchtiger als er. (…) Ich habe meine Sache studiert. Ich habe mich mit anderen öffentlichen Sprechern verglichen – Parlamentsmitgliedern, Volksrednern, Kanzelpredigern, Advokaten -,
und wo ich sie gut fand, habe ich ein Stückchen Phantasie von ihnen geborgt, und wo ich sie schlecht fand, habe ich sie in Ruhe gelassen.
Nun will ich euch aber was sagen. Ich bin entschlossen, in mein Grab zu steigen mit der Erklärung, daß von allen Berufen, denen in Großbritannien unrecht geschieht, die Hausierer am schlimmsten dran sind.“

Die wohl schönste Erzählung über einen fahrenden Händler in der Literaturgeschichte erschien erstmals in einer Sammlung der „Weinachtserzählungen“ von Charles Dickens.
Hier in der meisterhaften, mittlerweile als „klassisch“ geltenden Übersetzung von Carl Kolb/Julius Seybt.

Leseprobe:

Diese teuren Hausierer seifen das Volk schändlich ein, während wir billigen das niemals tun. Wir sagen den Leuten die Wahrheit ins Gesicht und verschmähen es, ihnen zu schmeicheln. Was Verwegenheit beim Anpreisen der Ware angeht, so sind wir die reinen Waisenkinder gegen die teuren Hausierer. In unserem Handel gilt es als Regel, daß man über eine Flinte besser schwadronieren kann als über jeden anderen Artikel, den wir aus dem Karren hervorholen, mit Ausnahme von einem Paar Brillengläser. Aber wenn ich einen Vortrag halte, was die Flinte vermag und was mit der Flinte schon alles geschossen worden ist, dann gehe ich doch nicht halb so weit wie die teuren Hausierer, wenn sie nicht über ihre Flinten, wohl aber über ihre Kanonen reden – ihre großen Kanonen, die ihre Drahtzieher sind. Außerdem bin ich ein selbständiger Geschäftsmann – ich werde von niemandem mit einem Auftrag auf den Markt geschickt, wie es bei denen der Fall ist. Und ferner wissen meine Flinten nichts von dem, was ich zu ihrem Lob sage, während ihre Kanonen es wissen, und die ganze Gesellschaft sollte sich in Grund und Boden schämen. Das sind einige meiner Gründe für die Behauptung, daß die Hausierer in Großbritannien schlecht behandelt werden; und deshalb gerate ich in Wut, wenn ich an die großen Leute denke, die glauben, sie dürften auf uns herabsehen.

Ich warb um meine Frau von dem Trittbrett des Karrens aus. So war es tatsächlich. Sie war ein junges Mädchen von Suffolk, und es geschah auf dem Marktplatz von Ipswich, dem Laden des Kornhändlers genau gegenüber. Ich hatte sie schon am Sonnabend zuvor an einem Fenster stehen sehen und hatte sie gleich hoch eingeschätzt. Sie gefiel mir, und ich sagte mir: »Falls sie noch nicht vergeben ist, will ich diese Partie nehmen.« Am nächsten Sonnabend stellte ich den Karren auf demselben Fleck auf. Ich war bester Laune, das Publikum lachte in einem fort, und die Sachen gingen ab wie geschmiert. Schließlich zog ich aus meiner Westentasche eine kleine, in Fließpapier eingewickelte Partie hervor und begann folgendermaßen, wobei ich zu dem Fenster, an dem sie stand, emporblickte:

»Nun hier, ihr blühenden Mädels von England, ist ein Artikel, der letzte Artikel vom heutigen Verkauf, den ich nur euch, ihr lieblichen Kinder von Suffolk, die ihr vor Schönheit überströmt, anbiete, und den ich keinem lebendigen Manne für tausend Pfund überlassen würde. Was mag das wohl sein? Ich will euch sagen, was es ist. Es ist aus gediegenem Gold, und es ist nicht zerbrochen, obwohl es in der Mitte ein Loch hat, und es ist stärker als jede Fessel, die je geschmiedet wurde, obgleich es schmäler ist als der dünnste Finger unter meinen zehn. Weshalb gerade zehn? Weil, als meine Eltern mir mein Vermögen vermachten, wie ich euch wahrheitsgemäß versichere, zwölf Laken, zwölf Handtücher, zwölf Tischdecken, zwölf Messer, zwölf Gabeln, zwölf Eßlöffel und zwölf Teelöffel da waren, aber bei meinen Fingern fehlten zwei am Dutzend, und ich habe sie niemals beschaffen können. Nun, was ist es sonst noch? Hört zu, ich will’s euch sagen. Es ist ein Reif aus massivem Gold, eingewickelt in ein silbernes Haarwickelpapier, das ich mit eigener Hand von den glänzenden Locken der unvergänglich schönen alten Dame in Threadneedle Street in der Londoner City Die Bank von Englandgenommen habe – ich würde das nicht behaupten, wenn ich euch nicht das Papier vorzeigen könnte, sonst würdet ihr es selbst von mir nicht glauben. Nun, was ist es sonst noch? Es ist eine Männerfalle und eine Handschelle, ein Schließeisen und eine Beinfessel, alles in Gold und alles in einem. Nun, was ist es sonst noch? Es ist ein Ehering. Nun will ich euch sagen, was ich damit machen werde. Ich werde diesen Artikel nicht für Geld anbieten, sondern ich will ihn derjenigen unter euch Schönen geben, die jetzt lachen wird. Bei dieser will ich morgen früh Punkt halb zehn mit dem Glockenschlag einen Besuch machen und mit ihr spazierengehen, um das Aufgebot zu bestellen.«

Sie lachte, und der Ring wurde ihr hinaufgereicht. Als ich am nächsten Morgen zu ihr komme, sagt sie:

»Du lieber Himmel! Da seid Ihr ja! Es kann Euch doch nicht Ernst gewesen sein?«

»Da bin ich«, sage ich, »und ich bin für immer der Eurige, und es ist mein heiliger Ernst.«

So wurden wir getraut, nachdem wir dreimal aufgeboten worden waren – was, nebenbei bemerkt, ganz unseren Geschäftsgebräuchen entspricht und wieder einmal zeigt, wie sehr diese Gebräuche die ganze Gesellschaft durchdringen.

Sie war kein böses Weib, aber sie hatte ein reizbares Temperament. Wenn ich diesen Artikel unter Preis hätte loswerden können, so hätte ich sie für kein anderes Weib in ganz England hergegeben. (…)

Charles Dickens
Doktor Marigold
Erstdruck im englischsprachigen Orginal: Doctor Marigold’s prescriptions, Chapman and Hall, London 1865.
Übersetzung von Carl Kolb/Julius Seybt.
Vollständige Neuausgabe, LIWI Verlag, Göttingen 2019.
LIWI Literatur- und Wissenschaftsverlag

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