Verlage LIWI Blog Autoren Buchmessen Buecher Rezensionen

LIWI BLOG

Rezensionen über neue Bücher & Literaturklassiker, News zu Autoren & Lesungen, Artikelserie „Was macht ein Verlag?

Naturalismus (Epoche)

naturalismus-epoche uebersicht zeitstrahl

Der Naturalismus ist eine literarische Strömung, die sich Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte und bis ins frühe 20. Jahrhundert hineinreichte. Diese Epoche zeichnet sich durch eine starke Orientierung an den Naturwissenschaften und dem Ziel aus, die Realität so genau und ungeschönt wie möglich darzustellen.

Definition Naturalismus

Der Naturalismus ist eine literarische Bewegung, die durch eine detailgetreue, oft wissenschaftlich-analytische Darstellung der Wirklichkeit charakterisiert wird. Dies umfasst die genaue Beobachtung und realistische Abbildung menschlicher Lebensumstände, insbesondere von sozialen Missständen und der Unterprivilegierten.

Naturalismus – Podcast

Klicken Sie auf den unteren Button, um den Inhalt von open.spotify.com zu laden.

Inhalt laden

Naturalismus Epoche – geschichtlicher Hintergrund

Der Naturalismus als literarische Strömung entstand als Reaktion auf tiefgreifende soziale und wissenschaftliche Umwälzungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Diese Phase war geprägt von dramatischen Veränderungen in vielen Bereichen des Lebens, die die Autoren des Naturalismus in ihren Werken thematisierten.

  • Industrielle Revolution: Der rasanten technologischen Entwicklung folgte eine ebenso schnelle Urbanisierung. Fabriken und Maschinen veränderten das Arbeitsleben und die Städte wuchsen unkontrolliert.
  • Verelendung der Arbeiterklasse: Trotz des wirtschaftlichen Aufschwungs litt ein großer Teil der Bevölkerung unter prekären Lebensbedingungen. Diese Diskrepanz zwischen Wohlstand und Armut wurde zu einem zentralen Thema des Naturalismus.
  • Aufstieg der Naturwissenschaften: Wissenschaftler wie Charles Darwin und Sigmund Freud stellten mit ihren Theorien traditionelle Ansichten über die Natur des Menschen und seine Rolle in der Welt infrage. Der Determinismus, die Idee, dass menschliches Verhalten vorherbestimmt ist durch Erbgut und Umwelt, beeinflusste stark die naturalistische Literatur.
  • Soziale Bewegungen: Die Arbeiterbewegung und die Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit wurden immer lauter. Die Autoren des Naturalismus griffen diese Themen auf und brachten sie auf die Bühne und in die Literatur.
  • Philosophischer Pessimismus: Inspiriert von Arthur Schopenhauer und später Friedrich Nietzsche, reflektierten viele Naturalisten eine tiefgreifende Skepsis gegenüber dem menschlichen Streben nach Glück und Sinn.

Diese Elemente bildeten den Nährboden für eine Literatur, die sich durch eine schonungslose Darstellung der Realität auszeichnete. Der Naturalismus strebte danach, die Welt „wie sie ist“ darzustellen, ohne künstlerische Beschönigung und mit einem starken Fokus auf soziale Probleme und wissenschaftliche Genauigkeit. Diese neue Richtung in der Literatur spiegelte das Bedürfnis wider, eine tiefere und unverstellte Wahrheit über die menschliche Existenz und ihre sozialen Bedingungen zu erfassen.

Naturalismus Merkmale – Welt- und Menschenbild

Der Naturalismus zeichnet sich durch ein spezifisches Welt- und Menschenbild aus, das deutlich von früheren literarischen Strömungen abweicht. Dieses Bild ist geprägt durch wissenschaftlichen Determinismus und eine pessimistische Sicht auf die menschliche Natur und Gesellschaft.

  • Determinismus: Eine Kernannahme des Naturalismus ist, dass menschliches Verhalten durch erbliche Faktoren und das soziale Milieu determiniert ist. Diese Sichtweise ist stark beeinflusst durch die Ideen von Charles Darwin und die aufkommenden Sozialwissenschaften.
  • Objektivität und Wissenschaftlichkeit: Naturalistische Werke streben nach einer möglichst genauen und unverfälschten Darstellung der Realität. Die Autoren verwenden oft naturwissenschaftliche Methoden zur Charakterisierung ihrer Figuren und Szenarien, ähnlich einem wissenschaftlichen Experiment.
  • Pessimismus: Im Gegensatz zum Idealismus des 19. Jahrhunderts, der die Welt oft verschönerte, zeichnet der Naturalismus ein oft düsteres und kritisches Bild der Realität. Soziale Ungerechtigkeit, Elend und Entfremdung sind vorherrschende Themen.
  • Vererbung: Eine weitere wichtige Komponente des naturalistischen Menschenbilds ist die Annahme, dass viele Eigenschaften und Verhaltensweisen genetisch vererbt werden. Dies führt zu einer fatalistischen Sicht auf das Schicksal der Charaktere, die oft als Gefangene ihrer biologischen und sozialen Prägung dargestellt werden.

Diese Merkmale führen dazu, dass die Literatur des Naturalismus häufig als nüchtern und bisweilen schockierend empfunden wird. Sie schont den Leser nicht, sondern konfrontiert ihn mit einer Realität, die durch wissenschaftliche Genauigkeit und sozialkritische Schärfe charakterisiert ist. Die Werke dieser Epoche bieten somit einen ungeschönten Einblick in die menschliche Existenz und ihre oft tragischen Umstände.

Naturalismus Merkmale – Themen und Motive

Die Literatur des Naturalismus ist gekennzeichnet durch ihre Fokussierung auf bestimmte Themen und Motive, die auf eine detaillierte und oft kritische Auseinandersetzung mit der Gesellschaft abzielen.

  • Soziale Frage: Der Naturalismus widmet sich intensiv den Lebensbedingungen der unteren sozialen Schichten. Er beleuchtet das Elend und die Ausbeutung der Arbeiterklasse, die durch die Industrialisierung verschärft wurden.
  • Familienkonflikte: Innerfamiliäre Spannungen und Konflikte werden oft als Mikrokosmos gesellschaftlicher Probleme dargestellt.
  • Krankheit und Verfall: Themen wie Krankheit, geistiger Verfall und sozialer Abstieg sind zentral, um das Leid und die Zerbrechlichkeit des Menschen zu betonen.
  • Konflikte der Moderne: Die Herausforderungen der modernen, industrialisierten Welt, wie Entfremdung und Identitätsverlust, werden häufig thematisiert.

Das Hässliche – Naturalismus Merkmale

Der Naturalismus bricht mit der traditionellen Ästhetik, indem er das Hässliche und Brutale des Alltags in den Vordergrund rückt. Anstatt das Leben zu idealisieren, zeigt er es in seiner rohen und oft schmerzhaften Wirklichkeit.

  • Unverblümte Darstellung: Soziale Missstände, Armut und Verzweiflung werden ohne Beschönigung präsentiert.
  • Physische und psychische Leiden: Der Fokus liegt auf der detaillierten, ungeschönten Darstellung körperlicher und seelischer Leiden.

Kunst = Natur − x

Die Formel Kunst = Natur − x, geprägt von Arno Holz, illustriert das naturalistische Bestreben, die Kunst so nah wie möglich an die Natur heranzuführen. Hierbei steht x für die künstlerischen Mittel, die minimiert werden sollen, um eine möglichst authentische Darstellung zu erreichen.

  • Reduktion künstlerischer Mittel: Die Verwendung von Kunstgriffen wird auf ein Minimum reduziert, um eine „natürliche“ Darstellung zu erreichen.
  • Authentizität: Es geht darum, die Wirklichkeit so genau und unverfälscht wie möglich zu erfassen.

Sekundenstil – Naturalismus Merkmale

Der Sekundenstil ist eine Schreibweise, die darauf abzielt, das Geschehen in realer Zeit abzubilden. Dieser Stil ist durch eine extreme Detailgenauigkeit gekennzeichnet.

  • Detailreichtum: Jedes noch so kleine Detail wird erfasst und beschrieben.
  • Dialoge: Natürliche Sprache und Dialekte werden verwendet, um Authentizität zu schaffen und die soziale Schichtung der Charaktere widerzuspiegeln.

Milieutheorie – Naturalismus Merkmale

Die Milieutheorie besagt, dass das soziale Umfeld und die Lebensumstände einer Person deren Charakter und Schicksal maßgeblich bestimmen.

  • Soziale Determinierung: Personen sind Produkte ihres sozialen und ökonomischen Umfelds.
  • Sozialkritik: Durch die Darstellung verschiedener Milieus kritisiert der Naturalismus soziale Ungerechtigkeiten und Klassenunterschiede.

Diese Merkmale prägen die naturalistische Literatur und machen sie zu einem Spiegel der gesellschaftlichen Realitäten der Zeit.

Naturalismus – Gattungen und typische Vertreter

Der Naturalismus manifestierte sich in verschiedenen literarischen Gattungen, jede mit spezifischen Merkmalen und herausragenden Vertretern.

Dramatik

Im Bereich der Dramatik brachte der Naturalismus Werke hervor, die sich durch ihre sozialkritische Thematik und ihre realistische Darstellung menschlicher Schicksale auszeichnen. Typisch sind die detaillierten Bühnenanweisungen, die eine realistische Illusion erzeugen sollen.

  • Gerhart Hauptmann: Seine Dramen, wie „Die Weber“ (1892) und „Vor Sonnenaufgang“ (1889), sind Schlüsselwerke des deutschen Naturalismus. Sie zeigen das Leben der Arbeiterklasse und deren Kämpfe in einem authentischen sozialen Kontext.
  • Henrik Ibsen: Obwohl norwegisch, beeinflusste Ibsen den deutschen Naturalismus erheblich. Werke wie „Ein Volksfeind“ (1882) und „Hedda Gabler“ (1890) erforschen individuelle Konflikte und soziale Kritik.
  • August Strindberg: Der schwedische Autor brachte mit „Fräulein Julie“ (1888) ein Drama, das klassenübergreifende Beziehungen und psychologische Tiefe aufzeigt.

Epik

In der Epik zeichnet sich der Naturalismus durch detailreiche Darstellungen des Alltagslebens, oft der unteren Gesellschaftsschichten, aus. Romane und Kurzgeschichten dieser Epoche sind bekannt für ihre sozialen Untersuchungen und psychologischen Einblicke.

  • Émile Zola: Sein Romanzyklus „Les Rougon-Macquart“ ist paradigmatisch für den literarischen Naturalismus. Zola verwendet eine Methode, die er als „experimentellen Roman“ beschreibt, um das Leben unter dem Zweiten Kaiserreich in Frankreich zu erforschen.
  • Theodor Fontane: Obwohl oft mehr dem Realismus zugeordnet, zeigen Werke wie „Effi Briest“ (1894) naturalistische Züge in der kritischen Gesellschaftsdarstellung und Charakterentwicklung.
  • Maxim Gorki: Seine Werke, darunter „Die Kleinbürger“ (1901), zeigen das Leben und die Leiden der unteren russischen Gesellschaftsschichten auf eine Weise, die typisch für den Naturalismus ist.

Lyrik

Auch in der Lyrik findet der Naturalismus seinen Ausdruck, allerdings weniger dominant als in Drama und Epik. Die Lyrik des Naturalismus strebt danach, die Realität ohne die traditionellen Verzierungen der Poesie darzustellen.

  • Arno Holz und Johannes Schlaf: In ihrem Werk „Papa Hamlet“ (1889) experimentieren sie mit einer neuen Form der Lyrik, die sich durch eine prosanahe Sprache und die Darstellung des Alltäglichen auszeichnet.
  • Detlev von Liliencron: Seine Gedichte sind bekannt für ihre lebendige und ungeschminkte Darstellung des Lebens, insbesondere des Militärlebens, und spiegeln den naturalistischen Blick auf die Realität wider.

Diese Vertreter und ihre Werke illustrieren die Vielfalt und die Tiefe des Naturalismus in der Literatur, indem sie die Bedingungen und Gefühle der Menschen ihrer Zeit einfangen und kritisch hinterfragen.

Naturalismus – wichtige Autoren und Werke

  • Gerhart HauptmannBahnwärter Thiel 1888, Die Weber 1892, Vor Sonnenaufgang 1889
  • Arno Holz und Johannes SchlafPapa Hamlet 1889, Die Familie Selicke 1890
  • Hermann SudermannDie Ehre 1889, Frau Sorge 1887
  • Detlev von LiliencronAdjutantenritte und andere Gedichte 1883
  • Max HalbeJugend 1893, Die Friedensinsel 1845 (posthum)

Quellen und Links

Siehe auch:

Verfasst von Thomas Löding, LIWI Blog, zuletzt aktualisiert am 25. Juni 2024