Ödön von Horváth. Sechsunddreißig Stunden.

Sechsunddreißig Stunden

„Zehn Minuten später saßen Agnes und Eugen unter einer Ulme. Er hatte sie nämlich gefragt, ob sie sich nicht setzen wollten, er sei zwar nicht müde, aber immerhin hätte er nichts dagegen, wenn er sich setzen könnte. Sie hatte ihn etwas mißtrauisch angeschaut, und er hatte ein ganz unschuldiges Gesicht geschnitten, aber sie hatte ihm diese Unschuld schon gar nicht geglaubt und gesagt, sie hätte nichts dagegen, daß er sich setzen wollte, er könnte sich ruhig setzen und wenn er sich setzen würde, würde sie sich auch setzen.“

Ödön von Horváth.
Sechsunddreißig Stunden.
Neuausgabe, Göttingen 2019.
LIWI Literatur- und Wissenschaftsverlag

ISBN: 396542145X
Paperback 76 Seiten

Zusammenfassung / Inhaltsangabe

Sechsunddreißig Stunden“ erzählt die Geschichte von Agnes Pollinger, einer jungen Frau, die im von der Weltwirtschaftskrise erschütterten Deutschland versucht, ein besseres Leben zu finden. Zu Beginn des Romans trifft sie auf Eugen Reithofer, einen verarmten Kellner aus Österreich, der sich einst ein erfolgreiches Leben erträumte. Im Laufe der Handlung kommen sich die beiden näher und verabreden sich für den nächsten Tag.

In dieser kurzen Zeitspanne werden die beiden Protagonisten mit zahlreichen Schwierigkeiten und Schicksalsschlägen konfrontiert, die ihre Beziehung und die Handlung entscheidend beeinflussen. Agnes gerät durch Vermittlung ihres Untermieters Kastner an einen Künstler, bei dem sie nackt posieren soll. Dabei trifft sie auf Harry Priegler, einen Metzgersohn, der versucht, sie zu seiner Geliebten zu machen. Währenddessen versucht Eugen herauszufinden, wo Agnes geblieben ist, nachdem sie ihre Verabredung versäumt hat.

Neben Agnes und Eugen beleuchtet der Roman auch das Schicksal anderer Charaktere, denen sie auf ihrer Reise begegnen. Diese Personen kämpfen ebenso mit Armut, sozialen Ungerechtigkeiten und dem Gefühl der Verzweiflung in einem sich rapide wandelnden Wirtschafts- und Gesellschaftssystem. Indem Ödön von Horváth diese Schicksale miteinander verwebt, erschafft er ein düsteres Bild der sozialen Umstände der Zeit und unterstreicht die Tragik des Kampfes um individuelle Erfüllung in einer von Krisen geprägten Welt.

Aufbau und Sprache

Der Aufbau von „Sechsunddreißig Stunden“ ist bewusst knapp und straff gehalten, was die Dringlichkeit der erzählten Ereignisse und die emotionale Intensität der Charaktere unterstreicht. Ödön von Horváth verwendet eine lineare Struktur, in der die Handlung in nur wenigen Kapiteln entfaltet wird. Die stringente Erzählweise ermöglicht es, den begrenzten Zeitraum von 36 Stunden präzise darzustellen, was die angespannte und prekäre Lebenslage der Protagonisten hervorhebt.

In sprachlicher Hinsicht setzt Horváth auf eine klare und realistische Sprache, die den Charakteren und ihrer sozialen Schicht gerecht wird. Er vermeidet bewusst romantische oder stilisierte Beschreibungen, um eine möglichst authentische Darstellung zu erreichen. Der Dialog ist schlicht und direkt, wobei Horváth häufig umgangssprachliche Wendungen und regionale Färbungen einsetzt, um die verschiedenen sozialen Hintergründe der Figuren zu verdeutlichen.

Seine Sprache dient jedoch nicht nur der Charakterisierung, sondern auch der gesellschaftlichen Kritik. Die knappen und oft lakonischen Bemerkungen der Charaktere spiegeln die Entfremdung und den Pessimismus wider, die das Leben in der Krise geprägt haben. Horváths sachliche, fast journalistische Beobachtungen schaffen eine erdrückende Atmosphäre, die das Schicksal der Charaktere umso eindringlicher und glaubwürdiger macht.

Analyse und Interpretation

Ödön von Horváths „Sechsunddreißig Stunden“ ist nicht nur eine Erzählung individueller Schicksale, sondern auch eine tiefgründige Analyse und Interpretation der gesellschaftlichen Zustände seiner Zeit. Der Roman verdeutlicht die Isolation und die sozialen Kämpfe der Charaktere, die in einem stetigen Kampf um Anerkennung und wirtschaftliche Sicherheit gefangen sind. Horváths Darstellung der zwischenmenschlichen Beziehungen und der seelischen Zerrüttung seiner Figuren ermöglicht es dem Leser, ein tieferes Verständnis für die psychologischen und sozialen Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise zu entwickeln.

Die Analyse dieser Beziehungen und der Handlung offenbart, dass die individuellen Entscheidungen und das Schicksal der Charaktere eng mit dem größeren gesellschaftlichen Kontext verknüpft sind. Jeder Schritt, den Agnes und Eugen unternehmen, spiegelt die größeren sozialen Kräfte wider, die ihre Handlungsmöglichkeiten sowohl begrenzen als auch formen. Horváth nutzt die Handlung des Romans, um komplexe Themen wie Macht, Entfremdung und Verlust zu erkunden.

Sozialkritik

Die sozialkritischen Themen, die Horváth im Roman behandelt, sind vielfältig und tiefgreifend. Besonders auffallend ist seine Darstellung der Verarmung und Verzweiflung, die während der Weltwirtschaftskrise herrschten. Indem er die Lebenswege von Figuren wie Agnes und Eugen nachzeichnet, die ständig um wirtschaftliches Überleben kämpfen, legt Horváth die Mängel und Ungerechtigkeiten des damaligen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems offen.

Horváth kritisiert nicht nur die ökonomische Instabilität, die durch die Krise verursacht wurde, sondern auch die sozialen Normen, die bestimmte Gruppen benachteiligten und marginalisierten. Seine Reflexionen über das Wirtschafts- und Gesellschaftssystem der Zeit zeigen, wie tiefgreifend die Auswirkungen der Krise waren. Der Autor hinterfragt die Wirksamkeit von sozialen Sicherungsnetzen und die Rolle der Regierung bei der Unterstützung der bedürftigsten Mitglieder der Gesellschaft.

Diese kritischen Beobachtungen sind heute noch relevant, da sie nicht nur historische Zustände beleuchten, sondern auch dazu anregen, über die aktuellen wirtschaftlichen und sozialen Strukturen nachzudenken. Horváths Werk bietet somit eine zeitlose Auseinandersetzung mit Fragen der sozialen Gerechtigkeit und menschlichen Würde.

Entstehung

Der Schreibprozess von Ödön von Horváth an „Sechsunddreißig Stunden“ begann um 1927, in einer Zeit intensiver literarischer Aktivität. Horváth arbeitete parallel an mehreren Projekten, darunter auch der „Roman einer Kellnerin“ und „Herr Kobler wird Paneuropäer“, die beide thematisch und stilistisch den Weg für „Sechsunddreißig Stunden“ ebneten. Diese Arbeiten verdeutlichen Horváths Fokus auf sozialkritische Themen und die Darstellung des kleinbürgerlichen Lebens.

Die endgültige Fassung des Romans wurde 1929 abgeschlossen, doch die Veröffentlichung zu Lebzeiten des Autors kam nicht zustande. Erst nach Horváths Tod wurden die Manuskripte wiederentdeckt und schließlich veröffentlicht. Die posthume Veröffentlichung war hauptsächlich auf die politische Situation im Europa der 1930er Jahre und die daraus resultierende Zensur zurückzuführen. Zusätzlich führten persönliche und verlegerische Unstimmigkeiten dazu, dass Horváths Werk erst viele Jahre später die Anerkennung erhielt, die es verdiente. Diese späte Veröffentlichung hilft, das Verständnis für die sozialen und kulturellen Kontexte, die Horváth in seinen Werken kritisch beleuchtet, zu vertiefen und bietet einen Einblick in die Arbeitsweise und Intentionen des Autors.

Epoche

„Sechsunddreißig Stunden“ entstand in der Zeit der Weimarer Republik, einer Ära, die von wirtschaftlicher Instabilität und sozialen Spannungen geprägt war. Die Weltwirtschaftskrise von 1929 stürzte Millionen Menschen in Arbeitslosigkeit und Armut, was die politische und soziale Unsicherheit weiter verschärfte. Diese Umstände boten den Nährboden für eine tiefe gesellschaftliche Desillusionierung und das Aufkommen extremistischer Bewegungen, die die Demokratie bedrohten.

Der Roman reflektiert diese Unruhe und zeigt die Auswirkungen der Krise auf die alltäglichen Lebensbedingungen der Menschen. Horváth fängt die Stimmung dieser Epoche durch die pessimistische Haltung seiner Charaktere und die Darstellung ihrer prekären Lebenssituation ein. Die zentrale Figur Agnes Pollinger steht stellvertretend für die verarmte Bevölkerung Deutschlands, die um das tägliche Überleben kämpfte.

Horváths Werk steht im Kontext einer literarischen Bewegung, die heute als Neue Sachlichkeit bezeichnet wird. Diese Strömung lehnte überhöhten Idealismus und Romantik ab und strebte stattdessen eine realistische und objektive Darstellung der Realität an. Der nüchterne, fast dokumentarische Stil von „Sechsunddreißig Stunden“ passt perfekt in diesen Kontext und ermöglicht einen schonungslosen Blick auf die sozialen Missstände der Zeit.

Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu Jugend ohne Gott und Der ewige Spießer

Ödön von Horváth verwebt in seinen Werken oft ähnliche Themen, allerdings auf unterschiedliche Weisen und mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Sowohl Sechsunddreißig Stunden als auch Jugend ohne Gott und Der ewige Spießer zeigen seine kritische Auseinandersetzung mit der Gesellschaft seiner Zeit, jedoch unter verschiedenen Blickwinkeln und mit unterschiedlichen narrativen Strategien.

Gemeinsamkeiten:

  • Sozialkritik: Alle drei Werke sind tief durchdrungen von Horváths Kritik an gesellschaftlichen Missständen. In Sechsunddreißig Stunden fokussiert sich diese Kritik auf die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf das individuelle Schicksal, während Jugend ohne Gott sich mit der zunehmenden Faschisierung der Gesellschaft und Der ewige Spießer mit dem Kleinbürgertum und dessen moralischen Defiziten beschäftigt.
  • Charakterzeichnung: Horváth verwendet in allen drei Werken detaillierte Charakterstudien, um gesellschaftliche Probleme zu illustrieren. Die Protagonisten sind oft tragische Figuren, gefangen in den Strukturen ihrer sozialen Realität.

Unterschiede:

  • Themenfokus: Während Sechsunddreißig Stunden das Leben von Menschen während der wirtschaftlichen Depression in den Mittelpunkt stellt, befasst sich Jugend ohne Gott primär mit dem moralischen Verfall in einer zunehmend autoritären Gesellschaft. Der ewige Spießer hingegen karikiert die Doppelmoral und die Oberflächlichkeit des Spießbürgertums.
  • Erzählstil: Sechsunddreißig Stunden ist in einem direkten, fast dokumentarischen Stil gehalten, der das Gefühl der Dringlichkeit und der sozialen Realität verstärkt. Jugend ohne Gott nutzt eine allegorischere Herangehensweise, die tief in die Psychologie des Einzelnen eintaucht, und Der ewige Spießer ist satirischer und schärfer in seiner gesellschaftlichen Kritik.
  • Perspektive und Struktur: Sechsunddreißig Stunden folgt mehreren Charakteren durch einen kurzen Zeitrahmen, wodurch ein dichtes soziales Netzwerk entsteht. In Jugend ohne Gott ist die Perspektive zentralisiert auf den Lehrer, der mit seinen moralischen Dilemmata ringt. Der ewige Spießer besteht aus episodischen Kapiteln, die verschiedene Phasen im Leben des Protagonisten beleuchten und dabei satirische Einblicke in sein Umfeld bieten.

Über den Autor

oedoen-von-horvath-autorenbildÖdön von Horváth (1901-1938) war ein einflussreicher deutschsprachiger Schriftsteller ungarischer Abstammung. Obwohl er ein relativ kurzes Leben führte, hinterließ er ein umfangreiches literarisches Werk, das von Romanen bis zu Theaterstücken reichte. Seine bekanntesten Arbeiten, wie „Geschichten aus dem Wiener Wald“ und „Jugend ohne Gott“, zählen zu den wichtigsten Werken der Zwischenkriegszeit.

Horváth war bekannt für seinen scharfen, oft sarkastischen Stil, mit dem er die sozialen und politischen Missstände seiner Zeit bloßlegte. Als entschiedener Gegner des aufkommenden Nationalsozialismus verließ er Deutschland nach der Machtergreifung der Nazis und lebte im Exil, vorwiegend in Wien und Paris. Während dieser Zeit arbeitete er weiter an seinen kritischen und sozial engagierten Werken.

Sein literarischer Ansatz, der stark von der Neuen Sachlichkeit geprägt war, zeichnete sich durch eine klare, realistische Sprache und eine schonungslose Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Fragen aus. Horváth starb 1938 in Paris, als ein Ast während eines Unwetters auf ihn stürzte. Trotz seines frühen Todes bleibt er ein bedeutender Schriftsteller, dessen Werke die politische und soziale Landschaft seiner Zeit eindrucksvoll widerspiegeln und bis heute relevant sind.

FAQ

Was ist die Handlung von Sechsunddreißig Stunden?

Die Geschichte folgt Agnes Pollinger und Eugen Reithofer, zwei Menschen, die in der Weltwirtschaftskrise nach einem besseren Leben streben. Innerhalb von 36 Stunden erleben sie persönliche und gesellschaftliche Herausforderungen. Agnes versucht, eine sichere Beschäftigung zu finden, wird jedoch mit problematischen Angeboten konfrontiert. Eugen versucht, sich um sie zu kümmern, während er gleichzeitig mit seinen eigenen Schwierigkeiten kämpft.

Wie wird Sozialkritik in diesem Werk dargestellt?

Horváth verwendet das individuelle Schicksal seiner Charaktere, um die sozialen Missstände der damaligen Zeit hervorzuheben. Die wirtschaftliche Instabilität und der moralische Verfall während der Weltwirtschaftskrise führen zu Verzweiflung, Armut und Isolation. Er hinterfragt die Wirksamkeit sozialer Sicherungsnetze und die Rolle des Staates bei der Unterstützung der Bedürftigsten.

Wie ist der Stil und Aufbau des Romans?

Der Roman ist knapp strukturiert, um die begrenzte Zeitspanne von 36 Stunden widerzuspiegeln. Horváth verwendet eine klare, realistische Sprache und vermeidet romantische Beschreibungen, um Authentizität zu schaffen. Dialoge sind direkt und verwenden umgangssprachliche Wendungen, um soziale Unterschiede hervorzuheben.

Wie steht Sechsunddreißig Stunden im Kontext der Epoche?

Der Roman entstand während der Weimarer Republik, als wirtschaftliche Instabilität und soziale Spannungen das Leben prägten. Die Darstellung von Agnes und Eugen reflektiert die allgemeine Verarmung und Unsicherheit, die die Weltwirtschaftskrise verursacht hat. Ihr Kampf ums Überleben symbolisiert die Kämpfe der deutschen Bevölkerung jener Zeit.

Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede bestehen zu anderen Werken Horváths?

Sechsunddreißig Stunden, Jugend ohne Gott und Der ewige Spießer sind durch eine starke Sozialkritik und detaillierte Charakterstudien verbunden. Während Sechsunddreißig Stunden den Fokus auf die wirtschaftliche Depression legt, befasst sich Jugend ohne Gott mit der moralischen Verkommenheit einer autoritären Gesellschaft. Der ewige Spießer karikiert die Oberflächlichkeit und Doppelmoral des Kleinbürgertums.

Wie spiegelt der Roman die literarische Strömung der Neuen Sachlichkeit wider?

Die Neue Sachlichkeit betonte Realismus und Objektivität. Horváths klare Sprache, die lineare Handlung und die realistischen Charaktere spiegeln diese Bewegung wider. Durch seine sachliche Darstellung schafft er eine erdrückende Atmosphäre und beleuchtet die sozialen Probleme der Zeit.

Buchausgabe

Ödön von Horváth.
Sechsunddreißig Stunden.
Neuausgabe, Göttingen 2019.
LIWI Literatur- und Wissenschaftsverlag

ISBN: 396542145X
Paperback 76 Seiten

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Verfasst von Thomas Löding, LIWI Blog, zuletzt aktualisiert am 03. Mai 2024