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Naturalismus (Epoche)
Der Naturalismus ist eine literarische Strömung, die sich Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte und bis ins frühe 20. Jahrhundert hineinreichte. Diese Epoche zeichnet sich durch eine starke Orientierung an den Naturwissenschaften und dem Ziel aus, die Realität so genau und ungeschönt wie möglich darzustellen.
Definition Naturalismus
Der Naturalismus ist eine literarische Bewegung, die durch eine detailgetreue, oft wissenschaftlich-analytische Darstellung der Wirklichkeit charakterisiert wird. Dies umfasst die genaue Beobachtung und realistische Abbildung menschlicher Lebensumstände, insbesondere von sozialen Missständen und der Unterprivilegierten.
Naturalismus Übersicht – Das Wichtigste in Kürze
- Zeitraum: etwa 1880 bis 1900
- Einordnung: Nachfolger des Realismus (1848 – 1890), Vorläufer der Moderne (1880 – 1920)
- Geschichte: Antwort auf industrielle und soziale Veränderungen in Europa
- Weltbild: geprägt von Determinismus und wissenschaftlichem Positivismus
- Themen: soziale Frage, Elend, Arbeiterschaft
- Literatur: stark von sozialkritischen und wissenschaftlichen Aspekten beeinflusst
- Wichtige Vertreter: Gerhart Hauptmann, Émile Zola, Max Halbe
Naturalismus – Podcast
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Naturalismus Epoche – geschichtlicher Hintergrund
Der Naturalismus als literarische Strömung entstand als Reaktion auf tiefgreifende soziale und wissenschaftliche Umwälzungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Diese Phase war geprägt von dramatischen Veränderungen in vielen Bereichen des Lebens, die die Autoren des Naturalismus in ihren Werken thematisierten.
- Industrielle Revolution: Der rasanten technologischen Entwicklung folgte eine ebenso schnelle Urbanisierung. Fabriken und Maschinen veränderten das Arbeitsleben und die Städte wuchsen unkontrolliert.
- Verelendung der Arbeiterklasse: Trotz des wirtschaftlichen Aufschwungs litt ein großer Teil der Bevölkerung unter prekären Lebensbedingungen. Diese Diskrepanz zwischen Wohlstand und Armut wurde zu einem zentralen Thema des Naturalismus.
- Aufstieg der Naturwissenschaften: Wissenschaftler wie Charles Darwin und Sigmund Freud stellten mit ihren Theorien traditionelle Ansichten über die Natur des Menschen und seine Rolle in der Welt infrage. Der Determinismus, die Idee, dass menschliches Verhalten vorherbestimmt ist durch Erbgut und Umwelt, beeinflusste stark die naturalistische Literatur.
- Soziale Bewegungen: Die Arbeiterbewegung und die Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit wurden immer lauter. Die Autoren des Naturalismus griffen diese Themen auf und brachten sie auf die Bühne und in die Literatur.
- Philosophischer Pessimismus: Inspiriert von Arthur Schopenhauer und später Friedrich Nietzsche, reflektierten viele Naturalisten eine tiefgreifende Skepsis gegenüber dem menschlichen Streben nach Glück und Sinn.
Diese Elemente bildeten den Nährboden für eine Literatur, die sich durch eine schonungslose Darstellung der Realität auszeichnete. Der Naturalismus strebte danach, die Welt „wie sie ist“ darzustellen, ohne künstlerische Beschönigung und mit einem starken Fokus auf soziale Probleme und wissenschaftliche Genauigkeit. Diese neue Richtung in der Literatur spiegelte das Bedürfnis wider, eine tiefere und unverstellte Wahrheit über die menschliche Existenz und ihre sozialen Bedingungen zu erfassen.
Naturalismus Merkmale – Welt- und Menschenbild
Der Naturalismus zeichnet sich durch ein spezifisches Welt- und Menschenbild aus, das deutlich von früheren literarischen Strömungen abweicht. Dieses Bild ist geprägt durch wissenschaftlichen Determinismus und eine pessimistische Sicht auf die menschliche Natur und Gesellschaft.
- Determinismus: Eine Kernannahme des Naturalismus ist, dass menschliches Verhalten durch erbliche Faktoren und das soziale Milieu determiniert ist. Diese Sichtweise ist stark beeinflusst durch die Ideen von Charles Darwin und die aufkommenden Sozialwissenschaften.
- Objektivität und Wissenschaftlichkeit: Naturalistische Werke streben nach einer möglichst genauen und unverfälschten Darstellung der Realität. Die Autoren verwenden oft naturwissenschaftliche Methoden zur Charakterisierung ihrer Figuren und Szenarien, ähnlich einem wissenschaftlichen Experiment.
- Pessimismus: Im Gegensatz zum Idealismus des 19. Jahrhunderts, der die Welt oft verschönerte, zeichnet der Naturalismus ein oft düsteres und kritisches Bild der Realität. Soziale Ungerechtigkeit, Elend und Entfremdung sind vorherrschende Themen.
- Vererbung: Eine weitere wichtige Komponente des naturalistischen Menschenbilds ist die Annahme, dass viele Eigenschaften und Verhaltensweisen genetisch vererbt werden. Dies führt zu einer fatalistischen Sicht auf das Schicksal der Charaktere, die oft als Gefangene ihrer biologischen und sozialen Prägung dargestellt werden.
Diese Merkmale führen dazu, dass die Literatur des Naturalismus häufig als nüchtern und bisweilen schockierend empfunden wird. Sie schont den Leser nicht, sondern konfrontiert ihn mit einer Realität, die durch wissenschaftliche Genauigkeit und sozialkritische Schärfe charakterisiert ist. Die Werke dieser Epoche bieten somit einen ungeschönten Einblick in die menschliche Existenz und ihre oft tragischen Umstände.
Naturalismus Merkmale – Themen und Motive
Die Literatur des Naturalismus ist gekennzeichnet durch ihre Fokussierung auf bestimmte Themen und Motive, die auf eine detaillierte und oft kritische Auseinandersetzung mit der Gesellschaft abzielen.
- Soziale Frage: Der Naturalismus widmet sich intensiv den Lebensbedingungen der unteren sozialen Schichten. Er beleuchtet das Elend und die Ausbeutung der Arbeiterklasse, die durch die Industrialisierung verschärft wurden.
- Familienkonflikte: Innerfamiliäre Spannungen und Konflikte werden oft als Mikrokosmos gesellschaftlicher Probleme dargestellt.
- Krankheit und Verfall: Themen wie Krankheit, geistiger Verfall und sozialer Abstieg sind zentral, um das Leid und die Zerbrechlichkeit des Menschen zu betonen.
- Konflikte der Moderne: Die Herausforderungen der modernen, industrialisierten Welt, wie Entfremdung und Identitätsverlust, werden häufig thematisiert.
Verfasst von Thomas Löding, LIWI Blog, zuletzt aktualisiert am 25. Juni 2024